Deutsche Wehleidigkeit

Jammern auf sehr hohem Niveau

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Gesunkener Angelkutter mit deutscher Fahne im Rostocker Stadthafen
Steht das deutsche Staatsschiff kurz vor dem Untergang? Ganz im Gegenteil, meint Bijan Moini. © picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Ein Standpunkt von Bijan Moini · 15.03.2024
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So schlimm wie jetzt war die Wehleidigkeit in Deutschland wohl lange nicht mehr: Katzenjammer, wohin man schaut. Dabei gehe es unserem Land doch verdammt gut, meint der Jurist und Autor Bijan Moini. Unsere Maßstäbe seien vollkommen verrückt.
Wer Nachrichten hört und sich durch die Sozialen Medien klickt, glaubt Deutschland kurz vor dem Untergang. Nur um 0,6 Prozent werde die Wirtschaft 2024 wachsen, weniger als fast überall sonst auf der Welt. Die Pisa-Test-Ergebnisse seien wieder mal eine Blamage. Das halbe Land fühlt sich nur eine Taurus-Lieferung von einem Atomkrieg mit Russland entfernt. Aber nichts erregte die Gemüter im vergangenen Jahr mehr als Heizungen, das Gendern, die Klebeaktionen der „Letzten Generation“ und eine landwirtschaftliche Subvention in Höhe von ein paar Hundert Millionen Euro.
Unsere Maßstäbe sind vollkommen verrückt – im doppelten Sinn. Denn tatsächlich geht es Deutschland verdammt gut. Wir haben gerade Japan als nominal drittgrößte Volkswirtschaft der Welt überholt. Unter den Staaten mit mehr als 20 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern haben nur die USA, Australien und Kanada eine höhere durchschnittliche Kaufkraft pro Kopf als wir. Im Pisa-Test befinden wir uns im Mittelfeld der besonders reichen OECD-Länder. Bezieht man den ganzen Bildungssektor ein – vom Kindergarten über die duale Ausbildung bis zur Universität und darüber hinaus –, so liegt Deutschland im Vergleich mit 153 anderen Staaten laut einer UNO-Untersuchung von 2021 auf Platz 13.

Katastrophenstimmung hat negative Folgen

Unser Sozialstaat versorgt Kranke, bewahrt uns vor Hunger und – zumindest meist – Obdachlosigkeit. Unser Justizsystem gehört zu den besten der Welt. Und während in der Ukraine, im Krieg zwischen Israel und der Hamas und in so vielen anderen Kriegsregionen auf der Welt jeden Tag Menschen sterben und noch viel mehr um ihr Leben fürchten, steht Deutschland auf Platz 15 der 163 im Global Peace Index erfassten Länder.
Die im Widerspruch zu alldem bei uns weitverbreitete Wehleidigkeit und Katastrophenstimmung hat ganz reale Folgen: Das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen schwindet. Rechtsextremistische Kräfte sind so stark wie nie, ragen bis in den Deutschen Bundestag hinein. Das gesellschaftliche Klima ist feindselig geworden. Immer öfter schlägt es um in Hass und Gewalt, gegen Privatmenschen und mehr noch gegen politisch Aktive.
Außerdem führen aufgeheizte Debatten über Triggerthemen zu Scheinlösungen für Pseudoprobleme, wie die unwürdigen Bezahlkarten zur Verhinderung von Auslandsüberweisungen durch Geflüchtete, für deren Höhe und Häufigkeit es nicht einmal belastbare Schätzungen gibt.

Erregung lenkt von ernsten Herausforderungen ab

Dazu lenkt die Erregung über ideologisch aufgeheizte Streitfragen ab von den viel ernsteren, langfristigen Herausforderungen unserer Zeit: Von der Erderwärmung, dem knappen Wohnraum, der sozialen Ungleichheit, den fehlenden Fachkräften, dem demographischen Wandel. Und von der postfaktischen autoritären Wende, die auch bei uns Demokratie und Freiheit bedroht.
Sich immer wieder bewusst zu machen, dass wir auf extrem hohem Niveau jammern, ist leichter gesagt als getan. Doch selbst wenn es uns gelingt: Was folgt daraus? Natürlich soll die Politik auch Probleme lösen, die mit etwas Abstand verhältnismäßig unbedeutend sind. Der Abstand aber könnte bewirken, dass Politik und Gesellschaft sich diesen und größeren Problemen gelassener, ja vielleicht sogar großzügiger widmen könnten.
Wer sich als Mensch seiner selbst gewiss ist, wer insbesondere seine Stärken kennt und schätzt, geht souveräner mit den eigenen Schwächen um – und mit Zumutungen durch andere. Dasselbe gilt für die Gesellschaft insgesamt. Ich fordere nicht mehr Stolz auf unser Land, sondern mehr Selbstvertrauen. Mehr Vertrauen darin, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit in den Griff bekommen werden. „Wir schaffen das“ muss wieder ein Leitspruch werden. Nur dann schaffen wir es auch.

Bijan Moini ist Rechtsanwalt und Politologe und leitet das Legal Team der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Nach dem Rechtsreferendariat in Berlin und Hongkong arbeitete er drei Jahre für eine Wirtschaftskanzlei. Dann kündigte er, um seinen Roman „Der Würfel“ zu schreiben (2019, Atrium). 2022 erschien von ihm bei Hoffmann und Campe „Unser gutes Recht. Was hinter den Gesetzen steckt“ – ein anekdotischer Überblick über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Bijan Moini
© Thomas Friedrich Schäfer
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