Deutsche Geschichte im Taschenbuchformat

Rezensiert von Jacqueline Boysen |
Enzyklopädisches Wissen zusammenzutragen scheint in Zeiten der unendlichen Verknüpfungen im Internet antiquiert - eine überlebte Gewohnheit aus bildungsbürgerlicher Vorzeit. Und doch sterben Lexika entgegen aller Unkenrufe nicht aus; die Verlage bauen immer noch auf die Wissensdurstigen, die gern blättern, verifizieren und nachschlagen.
Für den Beck-Verlag hat der Hamburger Historiker Axel Schildt die Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in Schlagworte gegliedert und ein kompaktes Nachschlagewerk im Taschenbuchformat von kaum mehr als 400 Seiten vorgelegt.

Namhafte Historiker haben die Artikel verfasst: Benz, Kleßmann, Loth, Steinbach, Wehler - auch Paul Nolte und andere aus der Generation der Nachfolger der renommierten, vielfach bereits emeritierten Professoren konnten als Autoren gewonnen werden. Die Qualität der Einträge ist generell hoch, auch die Literaturverweise scheinen verlässlich; die Systematik allerdings bedarf der Erklärung: Kein Wunder - das facettenreiche zwanzigste Jahrhundert in Schlagworte zu pressen, ist in jedem Fall ein kritikwürdiges Unterfangen.

Ein Lexikon ist gewissermaßen ein Handwerkszeug - für den sinnvollen Umgang damit und sein Funktionieren ist also eine Gebrauchsanweisung entscheidend.

Die Nachschlagewerke der Beckschen Reihe sind bedauerlicherweise etwas sparsam ausgestattet mit Übersichten und Registern: So erleichtert wohl ein Personenverzeichnis, das auch Geburtsdaten angibt, den Zugriff auf die entsprechenden Seiten, aber ein zusätzliches Schlagwortregister mit Verweisen würde den Gebrauch sehr vereinfachen.

Beispiel?

Suche ich nach einer Erklärung für einen politischen Kampfbegriff der zwanziger und dreißiger Jahre wie "Novemberverbrecher", so würde ein ordentliches Schlagwortverzeichnis auf den Artikel zur "Dolchstoßlegende" hinweisen.
Apropos November: Die geschichtsprägenden Ereignisse, die sich in unterschiedlichen Jahren jeweils am 9. November zugetragen haben, ließen sich gut über eine Chronologie erschließen, die leider in diesem Band auch fehlt. Das heißt für den 9. November, dass wir die deutsche Revolution von 1918 unter "Novemberrevolution" finden, den Marsch auf die Feldherrenhalle vom Jahr 1923 unter "Hitler-Ludendorff-Putsch, Hitlerprozess", den 9. November 1938 unter dem Stichwort "Reichskristallnacht", und schließlich den Mauerfall unter "B" wie "Berliner Mauer".
Immerhin taucht der "17. Juni 1953" an der alphabetisch vorgegebenen Stelle auf, die Opposition in der DDR kommt insgesamt etwas zu kurz. "Neues Deutschland" finden wir, aber nicht "Neues Forum".

Sind das zwangsläufige Absurditäten, der lexikalischer Methodik geschuldet?

Der Band beweist selbst, wie es geht: dem Thema "Schulsystem" sind vier Einträge gewidmet: die Schule in der Weimarer Republik, im Dritten Reich sowie in den beiden Nachkriegsdeutschländern werden separat behandelt. Also hätten neben dem "Widerstand gegen den Nationalsozialismus" auch die Formen von Resistenz gegen die SED gewürdigt werden müssen.
Warum "Demokratie und Liberalismus" oder das Schlagwortpaar "Recht, Rechtsstaat" auftauchen, "Diktatur" als Schlagwort jedoch nicht, darüber mag man rätseln. Warum "Siegfried-Stellung", aber nicht "Maginot-Linie"? mag sich der Militärhistoriker fragen, während anderen der Artikel über die "Rote Armee Fraktion" zu knapp vorkommen und das Fehlen des Stichworts "Neonazis" irritieren mag.

Ein Flop?

Ausdrücklich nein: die Beiträge werden der schwierigen deutschen Ideen- und Ereignisgeschichte durchaus gerecht, bleiben ideologisch sauber und verdienen ein Lob. Wer Kontinuitäten der deutschen Geschichte oder auch ihren Brüchen nachspüren will, dem sei das altmodische Nachschlagen und Blättern in diesem Band ausdrücklich empfohlen.

Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert
Ein Lexikon
Herausgegeben von Axel Schildt
Becksche Reihe. C.H. Beck, München 2005
438 Seiten
14,90 Euro