Deutsche Geschichte auf der Bühne

Von Hartmut Krug · 23.04.2009
Antifiguren nennen Autorin Tine Rahel Völcker und Regisseurin Nora Schlocker die sechs Protagonisten in ihrem Projekt zur deutschen Seele in Weimar. Sollten ursprünglich die Erfahrungen und Haltungen von Weimars Bewohnern nach der Wende betrachtet werden, so hat sich das Projekt während der Arbeit zu einer grundsätzlichen Untersuchung über das Verhältnis von Kunst, Kultur und Politik in Weimar ausgeweitet.
Vorgestellt werden nun im ersten Teil der "Studien zur Deutschen Seele" Weimarer Lebensläufe aus der Zeit von 1919 bis 1941. Mit krisenbewussten Menschen, die unzufrieden mit sich und ihrer Zeit sind und auf jeweils sehr eigene und eigenwillige Weise nach geistiger Erneuerung und nationalem Bewusstsein suchen. Sechs Lebensläufe in einem Weimar zwischen Goethe und Buchenwald verdeutlichen, wie unterschiedlich Menschen in extremen Situationen ihren Weg suchen und finden können.

Auf breiter, schmaler Bühnenschräge, deren Rückwand mit kräftigen Farbstreifen bemalt ist, bewegen sich die Darsteller direkt vor dem Publikum im leeren Spiel- und Gedanken-Raum. Vier Schauspieler stellen hier sechs sowohl reale wie Kunstfiguren in einem sehr direkten, körperlichen Spiel aus: so wird das Ideendrama zum sinnlichen Spiel. Hier inszenieren sich alle, wollen neu werden, eine Wiedergeburt erleben.

Schon auf den Treppen zur Spielstätte wird man von einer Frau mit angeklebtem Schnauzbart mit Flugblättern beworfen, auf denen Texte zur Frauenemanzipation oder über Hitler und seine Weimarer Gefolgschaft stehen. Auf der Bühne erfahren wir dann mehr von dieser gegen ihre Zeit und die Männer opponierenden Elfriede Lohse-Wächter, einer avantgardistischen Dresdner Malerin. Sie wandert zwischen den Geschlechterrollen und versucht vergeblich das Modell einer gesellschaftlichen Insel in der Gesellschaft zu verwirklichen, einer Utopie ohne Männerherrschaft. Die Malerin wird von den Männern, von ihrem Freund und ihrem Vater, mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen, sie wird dort erst sterilisiert und schließlich von den Nazis vergast. Die Schauspielerin Xenia Noetzelmann, die beide Frauenrollen des Stückes spielt, zeigt Elfriede als eine zunächst suchende Frau, die zum gejagten Tier wird, bis sie schließlich von Ärzten mit der Beobachtungsscheibe zu Boden und in die Zwangsjacke gedrückt wird. Dazu singt und klampft ein Schauspieler ganz verhalten Rocksongs über Lebenssuche und Revolution, ach auf diese Weise unangestrengt die Suchbewegungen und Lebenshaltungen aller Figuren versinnlichend. Auch die zweite Frau in diesem fiktiv-realistischen Theaterspiel, scheitert, - trotz Anpassung. In der Darstellung dieser Kunstfigur, die u.a. Elemente aus dem Leben von Goerings Frau Emmy Sonnemann und der Autorin Thea von Harbou in sich vereint, werden Schwierigkeiten und Zufälligkeiten von individuellen Entwicklungen in krisenhaften Umbruchszeiten besonders deutlich. Erst trotz völkischer Angriffe begeisterte Darstellerin in Schnitzlers "Reigen", bekommt die Schauspielerin später vom NS-Intendanten ein Kind, tritt in Buchenwald auf und passt sich als Autorin völlig an. Ganz anders Johannes R. Becher, vom mit seiner Kulturerneuerung in Weimar scheiternden Harry Graf Kessler mäzenatisch unterstützt. Während der bleiche Dandy Kessler sich Farbe ins Gesicht schmiert, agiert Becher so witzig wie kräftig kreatürlich und direkt, mit Selbstmordphantasien und -versuchen, mit Bier und Morphium, und wirkt dabei wie ein selbstbezogener Poseur, egomanisch wandernd und wankend zwischen Expressionismus und Kommunismus. Am Schluss tritt er, lobende Briefe von Klaus Mann über seine Gedichte lesend, als ängstlich selbstzufriedener Denunziant in Moskau auf. Zum Panorama von sechs wunderbar zu- und gegeneinander geführten Figuren gehören noch Hans Wahl, Goethe-Archivar und, nach Anpassung, Direktor des Goethe-Nationalmuseums, und der aus Berlin vor der künstlerischen Moderne geflüchtete Severus, der in Weimar gegen das Bauhaus und für völkische Kunst kämpft. In der Kunstfigur Severus, die sein Darsteller nie denunziert, sondern als einen falschen Halt suchenden Menschen zeigt, sind Haltungen des völkischen Dichters Friedrich Lienhard, des Literaturwissenschaftlers Adolf Bartels und von Hans Severus Ziegler, dem nationalsozialistischen Intendanten des Weimarer Nationaltheaters, zusammengeführt.

Auch wenn die Autorin Tine Rahel Völcker viele historische Fakten und wohl auch etliche Originalzitate in ihrem Stück verarbeitet, so schrieb sie weder ein Dokumentar- noch ein Lehrstück, sondern ein Suchstück zu den Fragen, wie Überzeugungen entstehen und wie sich Menschen ent- und unterscheiden. Gemeinsam mit der Regisseurin Nora Schlocker und den vier jungen, unangestrengt spielerischen Schauspielern Xenia Noetzelmann, Philipp Engelhardt, Florian Jahr und Philipp Oehme entwickelte sie dabei eine überzeugende und neue Form, sich mit deutscher Geschichte auseinander zu setzen.

Am Schluss hat der Direktor des Goethe Nationalmuseums zwar des Dichters originalen Schreibtisch vor den alliierten Bomben gerettet, doch seine heile Welt ist dahin. Weshalb seine verzweifelten Worten das Stück beschließen, die vom nationalsozialistischen Weimar und vom Stück als Illusion entlarvt wurden: "Goethe hilf."