Deutsche Befindlichkeiten
Im goldenen Oktober war die Welt noch in Ordnung, doch mit dem grauen Monat November kam die Depression. Als neue Volkskrankheit ist sie ins öffentliche Bewusstsein der Deutschen gerückt. Das Thema muss bereits in den Seelen geschwelt haben, sonst hätte der tragische Selbstmord eines Torwarts keine solche Welle in den Medien auslösen können – es kann einem fast schon peinlich sein, wenn man glücklich ist.
Gerade in der Wohlstandsgesellschaft trifft die Depression einen Nerv. Die Crux der modernen Welt besteht nämlich darin, dass es unserer Seele oft schlechter geht, als es die materiellen Umstände rechtfertigen. „Ich kann nicht klagen“ – diesen Satz sagen manche in einem Ton, der verrät, dass sie gern klagen würden, wenn sie denn einen Grund dazu hätten.
Mit dem Begriff Depression ist nicht nur die Krankheit im engeren Sinn gemeint – er gibt dem allgemeinen Gefühl von Frustration und Sinnlosigkeit einen Namen, und zwar einen, der ihm Würde verleiht, allein schon durch die Lebensgefahr. Warum bringen sich im sonnigen Kalifornien so viele Menschen um, fragt der Detektiv Philip Marlowe in einem Krimi von Ross Macdonald einen jungen, depressiven Mann. „Wissen Sie“, antwortet dieser, „wenn man genug Geld zum Leben hat und ein hübsches Haus und fast immer gutes Wetter, und wenn das Leben dann immer noch schiefgeht – wen will man dafür verantwortlich machen?“
Geld macht nicht glücklich, jedenfalls dann nicht, wenn man genug davon hat, um über die Runden zu kommen. Glücklich macht paradoxerweise genau das, was nicht für Geld zu haben ist: erfüllte Liebe, spannende Arbeit, erhebende Kunst – ja sogar der Haushalt kann Glücksgefühle auslösen. Dann nämlich, wenn man das Geschirr nicht abwäscht, damit es abgewaschen ist, sondern um des Abwaschens willen. Wenn man es also schafft, sich dem, was man tut, hinzugeben. Dann gerät man in den Zustand des „Flow“ – ein Begriff, den der aus Ungarn stammende amerikanische Psychologe Mihalyi Csikszentmihalyi geprägt hat.
Seit Jahrzehnten arbeitet Csikszentmihalyi in seinen Büchern daran, dem Rätsel des Glücks auf die Spur zu kommen. Normalerweise, so seine These, herrsche in unserem Kopf Chaos: Gedanken jagen sich, schwarze Gefühle entwickeln einen unwiderstehlichen Sog. Damit wir in den Zustand des Fließens geraten können, muss Ordnung im Bewusstsein herrschen. Und Ordnung im Bewusstsein entsteht dann, wenn wir eins sind mit dem, was wir tun. Dann verdrängt das, was wir tun, die wirren Gedanken; wir überwinden die Grenzen unseres Ichs und erleben Sinn. Dies jedoch setzt Konzentration, den Einsatz der eigenen Fähigkeiten und ein Ziel voraus.
Glücklich sein kann man lernen, das ist die gute Nachricht: Wenn wir unser Leben und unseren Alltag so einrichten, dass wir möglichst oft in einen inneren Fluss geraten, stärken wir damit auch unser Selbst. Dies bedeutet weiter, dass das Glück nicht von außen kommt. Es kann nur in uns selbst entstehen. Das ist keine neue Erkenntnis, im Gegenteil: Man findet sie in jeder Religion, und auch die Philosophen wissen es längst. Schopenhauer sagt: „Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unserer Auffassung, sind, macht uns glücklich oder unglücklich.“ Doch so schön und so einleuchtend diese Erkenntnis ist – es fällt uns nicht leicht, sie im Alltag anzuwenden, und das ist die schlechte Nachricht. Jeden Tag vergessen wir aufs Neue, wo das Glück auf uns wartet.
In den ärmeren Gegenden sind die Menschen glücklicher als in den reichen Ländern, das ergeben Umfragen. Geld macht nicht glücklich – aber macht es denn unglücklich? Es kann zumindest vom Glück ablenken. Mihalyi Czikszentmihalyi hat festgestellt, dass Menschen in ihrer Freizeit bei Beschäftigungen, die Geld kosten, seltener in den Flow-Zustand geraten, als wenn sie einfach spazieren gehen, spielen oder im Garten arbeiten. Zum Problem des Geldes kommen in der modernen Gesellschaft die Bewusstseinsdrogen in Form der Medien.
Auch Internet und Fernsehen bringen das Chaos in unserem Inneren zum Schweigen, allerdings ohne dass wir dafür seelische Energie aufwenden müssten – und genau das ist der Grund dafür, dass wir vor dem Bildschirm auch kaum je in einen Flow-Zustand kommen. Der Ausgang aus dem selbstverschuldeten Unglück bedeutet Anstrengung, und dieser gehen wir gern aus dem Weg. Wie angenehm, dass uns nun gerade rechtzeitig zum Winter bescheinigt wurde, es sei kein Unglück, wenn man unglücklich sei, sondern ganz normal.
Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der „Neuen Zürcher Zeitung“ reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die „Neue Zürcher Zeitung“ tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag „McDonald's Village“.
Mit dem Begriff Depression ist nicht nur die Krankheit im engeren Sinn gemeint – er gibt dem allgemeinen Gefühl von Frustration und Sinnlosigkeit einen Namen, und zwar einen, der ihm Würde verleiht, allein schon durch die Lebensgefahr. Warum bringen sich im sonnigen Kalifornien so viele Menschen um, fragt der Detektiv Philip Marlowe in einem Krimi von Ross Macdonald einen jungen, depressiven Mann. „Wissen Sie“, antwortet dieser, „wenn man genug Geld zum Leben hat und ein hübsches Haus und fast immer gutes Wetter, und wenn das Leben dann immer noch schiefgeht – wen will man dafür verantwortlich machen?“
Geld macht nicht glücklich, jedenfalls dann nicht, wenn man genug davon hat, um über die Runden zu kommen. Glücklich macht paradoxerweise genau das, was nicht für Geld zu haben ist: erfüllte Liebe, spannende Arbeit, erhebende Kunst – ja sogar der Haushalt kann Glücksgefühle auslösen. Dann nämlich, wenn man das Geschirr nicht abwäscht, damit es abgewaschen ist, sondern um des Abwaschens willen. Wenn man es also schafft, sich dem, was man tut, hinzugeben. Dann gerät man in den Zustand des „Flow“ – ein Begriff, den der aus Ungarn stammende amerikanische Psychologe Mihalyi Csikszentmihalyi geprägt hat.
Seit Jahrzehnten arbeitet Csikszentmihalyi in seinen Büchern daran, dem Rätsel des Glücks auf die Spur zu kommen. Normalerweise, so seine These, herrsche in unserem Kopf Chaos: Gedanken jagen sich, schwarze Gefühle entwickeln einen unwiderstehlichen Sog. Damit wir in den Zustand des Fließens geraten können, muss Ordnung im Bewusstsein herrschen. Und Ordnung im Bewusstsein entsteht dann, wenn wir eins sind mit dem, was wir tun. Dann verdrängt das, was wir tun, die wirren Gedanken; wir überwinden die Grenzen unseres Ichs und erleben Sinn. Dies jedoch setzt Konzentration, den Einsatz der eigenen Fähigkeiten und ein Ziel voraus.
Glücklich sein kann man lernen, das ist die gute Nachricht: Wenn wir unser Leben und unseren Alltag so einrichten, dass wir möglichst oft in einen inneren Fluss geraten, stärken wir damit auch unser Selbst. Dies bedeutet weiter, dass das Glück nicht von außen kommt. Es kann nur in uns selbst entstehen. Das ist keine neue Erkenntnis, im Gegenteil: Man findet sie in jeder Religion, und auch die Philosophen wissen es längst. Schopenhauer sagt: „Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unserer Auffassung, sind, macht uns glücklich oder unglücklich.“ Doch so schön und so einleuchtend diese Erkenntnis ist – es fällt uns nicht leicht, sie im Alltag anzuwenden, und das ist die schlechte Nachricht. Jeden Tag vergessen wir aufs Neue, wo das Glück auf uns wartet.
In den ärmeren Gegenden sind die Menschen glücklicher als in den reichen Ländern, das ergeben Umfragen. Geld macht nicht glücklich – aber macht es denn unglücklich? Es kann zumindest vom Glück ablenken. Mihalyi Czikszentmihalyi hat festgestellt, dass Menschen in ihrer Freizeit bei Beschäftigungen, die Geld kosten, seltener in den Flow-Zustand geraten, als wenn sie einfach spazieren gehen, spielen oder im Garten arbeiten. Zum Problem des Geldes kommen in der modernen Gesellschaft die Bewusstseinsdrogen in Form der Medien.
Auch Internet und Fernsehen bringen das Chaos in unserem Inneren zum Schweigen, allerdings ohne dass wir dafür seelische Energie aufwenden müssten – und genau das ist der Grund dafür, dass wir vor dem Bildschirm auch kaum je in einen Flow-Zustand kommen. Der Ausgang aus dem selbstverschuldeten Unglück bedeutet Anstrengung, und dieser gehen wir gern aus dem Weg. Wie angenehm, dass uns nun gerade rechtzeitig zum Winter bescheinigt wurde, es sei kein Unglück, wenn man unglücklich sei, sondern ganz normal.
Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der „Neuen Zürcher Zeitung“ reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die „Neue Zürcher Zeitung“ tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag „McDonald's Village“.