Deutsche Bahn

Auf der Suche nach dem lebensfrohen Deutschlandtakt

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Ein Zugbegleiter der Detutschen Bahn geht an einem ICE entlang.
Mit dem "Deutschlandtakt" will die Bahn einen verlässlichen Rhythmus finden. Doch das Unternehmen hat nicht nur Probleme mit der Pünktlichkeit. © imago / Sven Simon / Frank Hoermann
Überlegungen von Matt Aufderhorst · 20.11.2023
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Mehr Höflichkeit und Flexibilität würden der deutschen Gesellschaft guttun, meint unser Autor Matt Aufderhorst nach der Begegnung mit einem bürokratischen Bahnschaffner. Sein Wunsch: echte Mitmenschlichkeit statt rigider Regeln und Vorgaben.
Deutschlandtakt: Ein schöneres Wort, voller Heiterkeit, hätte sich die Werbeabteilung der Deutschen Bahn AG kaum ausdenken können. Im Takt steckt schließlich sowohl ein verlässlicher Rhythmus, zu dem wir uns gern und harmonisch bewegen, als auch - erkunden wir die moralische Bandbreite des Begriffs - ein Strauß an Eigenschaften, die unserer - nun ja: rabiat-unzufriedenen - Gesellschaft guttäten. Wer sehnte sich nicht nach dem Takt der Einfühlsamkeit und des Zartgefühls? Dem Takt des Miteinanders?
Zunächst aber ein Geständnis, das mir etwas unangenehm ist. Mich plagt seit jeher die Angst, ich könnte einen Zug verpassen. Ich tauche deswegen immer zu früh an der Bahnsteigkante auf. Deutlich zu früh. So auch an jenem Morgen, von dem ich berichten will. Als ich um 5 Uhr in aller Herrgottsfrühe auf Gleis 8, Berlin Hauptbahnhof tief, stehe, um den 5.30 Uhr-ICE zu nehmen, bin ich nicht allein. Der 5.06 Uhr-ICE Richtung Hamburg wartet auf die Abfahrt. 

„Zeigen Sie mal Ihr Ticket“

Das Ziel ist der Weg, denke ich, und spreche den Schaffner an, der vor der offenen ICE-Tür steht. „Eigentlich“, sage ich, „habe ich den nächsten gebucht. Dürfte ich bitte jetzt schon mit?“ Der Schaffner mustert mich. „Zeigen Sie mal Ihr Ticket.“ Ich öffne die App. Der Schaffner schüttelt den Kopf. „Sie haben kein flexibles Ticket.“ Ich blicke auf den leeren ICE. Der Zug, an dem ich fast komplett längs gelaufen bin, ist zu fünf Prozent belegt, maximal. „Platzmangel herrscht ja nicht“, sage ich und lächele. 
Der Schaffner geht auf meinen leichten Ton nicht ein.
„Ihr Sparpreis berechtigt nicht zur Fahrt in diesem ICE.“ 
„Aber eine Karte kostet für beide Züge gleich viel“, sage ich, „ich hab‘s gestern gesehen. Könnten wir da eine Ausnahme machen? Sie verlören nichts, täten eine gute Tat.“
„Es tut mir leid,“ sagt er kalt-regungslos und steigt ein. Steht breitbeinig in der Tür. Obwohl ich mich natürlich nicht an ihm vorbeigedrängelt hätte.
„Leider bestätigt Ihre unflexible Entscheidung mein Bild von der Deutschen Bahn.“ 
Er hebt die Hand, pfeift.

Befehl, rigide Regeln, Vorgaben

Vergleichbare Geschichten kennen viele Zugreisende. Sie sind symbolisch – für Deutschlands Taktlosigkeit. Unsere Gesellschaft ist wie der nur scheinbar freundliche Zugführer, der mich partout nicht als Mitmensch wahrgenommen hat.
Wir schotten uns ab. Ziehen uns auf Befehle zurück, rigide Regeln des Geld-Glaubens. Der Zugführer hätte gegen Vorgaben verstoßen. Falsche Vorgaben. Denn die Deutsche Bahn gehört zu hundert Prozent dem Bund. Für dessen Leistungen wir gemeinsam zahlen, per Steuern. Wir sind alle, über die Ecke gedacht, AnteilseignerInnen. Die Verweigerung der Mitnahme am sehr frühen Morgen ist also eine Verweigerung der Anerkennung unserer gemeinsamen Leistung als StaatsbürgerInnen. 

Können wir auch lebensfroh?

Verstehen Sie mich bitte richtig. Ich möchte diesen banalen Fall des Sitzenlassens nicht überhöhen. Und doch handelt es sich um einen typischen Moment der system-immanenten Unhöflichkeit und Inflexibilität. Lasst uns lässiger miteinander sein. Freundlicher. Weniger bürokratisch.
Schaffen wir uns endlich einen lebensfrohen Deutschlandtakt.

Matt Aufderhorst ist 1965 in Hamburg geboren. Er ist Radio- und Fernsehjournalist und Mitbegründer von „Authors for Peace“. Er studierte Kunstgeschichte und deutsche Literatur. Seine Essays über Architektur und Erinnerung sind unter anderem in „Lettre International“ und „WOZ“ erschienen. 

Matt Aufderhorst
© Ali Ghandtschi
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