Deutsche Auswanderer im Reich Erdogans

Türkisch für Anfänger

17:09 Minuten
Sonnenschirme und Menschen am Strand in der Nähre von Kas in der Türkei
Leben da, wo andere Urlaub machen wie hier an einem Strand in der Nähe von Kas: Rund 50.000 Deutsche sollen derzeit dauerhaft in der Türkei leben. © imago images/Arabian Eye/JD Dallet
Von Karin Senz · 07.07.2020
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Aussteigen, auswandern, abtauchen: Wirtschaftsjournalist Jens, Kabarettistin Doris und Tauchlehrerin Hanne haben Deutschland verlassen und eine neue Heimat gefunden - in Kas, einem der schönsten Küstenorte der Türkei. Haben sie es je bereut?
Hanne Bahnsen sitzt in ihrer kleinen Tauchschule in der Altstadt von Kas, die langen strohblonden Haare zu einem Zopf gebunden. Über ihr Fotos an der Wand von Tauchgruppen aus den letzten Jahren. Die 58-Jährige kommt ursprünglich aus Sophien-Magdalenen-Koog, kurz vor der dänischen Grenze.
"Das ist nicht so, dass ich Deutschland bewusst den Rücken gekehrt habe", sagt sie. "Das ist einfach wirklich durch Zufall entstanden."
Eine blonde Frau in dunkelblauer Latzhose und mit Brille sitzt auf einem Boot. Im Hintergrund das Meer und die andere Seite des Hafens mit vielen Schiffchen.
Hanne Bahnsen auf ihrem Tauchschiff im Hafen von Kas© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Sie lernte auf einer Messe in Deutschland den Leiter einer Tauchbasis im kleinen Kas kennen – das war vor knapp 20 Jahren. Damals arbeitet sie im Personalmanagement, aber im Sommer auch als Tauchlehrerin in Kroatien. Mit der Türkei hat sie so gar nichts am Hut. Sie lässt sich trotzdem überreden, doch mal vorbeizuschauen.

Die Sachen gepackt und ausgewandert

Es funkt, nicht nur, was das Land angeht, sondern auch den Besitzer der Tauchbasis. 2004 packt sie ihre Sachen und wandert aus. Von ihrem Mann lebt sie zu dem Zeitpunkt schon getrennt.
Ihre beiden Kinder sind damals 16 und 18 Jahre alt: "Die haben zu mir gesagt, Mama, wenn du in deinem Leben noch mal etwas anderes machen möchtest, dann musst du das jetzt machen. Und dann bin ich die erste Zeit wirklich mit leeren Taschen nach Deutschland geflogen und mit 80 Kilo wieder zurückgeflogen."
Der Blick geht vom Stadthafen von Kas, wo die Tauchschiffe liegen, in Richtung tiefblaues Meer.
Gute Aussichten für einen Tauchgang: Hier liegen im Stadthafen von Kas die Tauchschiffe.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Im neuen Hafen von Kas liegt das Segelboot von Jens Brambusch. Er kommt im Oktober 2018 mit nur zwei Seesäcken an, sonst gibt er alles weg. Denn er beschließt mit 46 aus seinem alten Leben als Wirtschaftsjournalist in Berlin auszusteigen. Zuvor rechnet er sich das genau durch.
Er hat ein gewisses finanzielles Sicherheitsbedürfnis, erzählt er: "Meine Eltern haben das beispielsweise ganz ausgeprägt. Das waren witzigerweise die Einzigen, die den Plan total bescheuert fanden. Eben weil, was ist denn mit der Rente? Und ich hatte halt das Glück, dass ich, als ich nach Berlin gezogen bin, mir mithilfe der Bank für relativ wenig Geld eine Eigentumswohnung kaufen konnte - und die sich aber in diesen vier Jahren im Wert verdoppelt hat."

Ein Signal, dass sich etwas ändern sollte

Er zahlt die Hypothek ab, kauft sich ein Segelboot und hat noch ein Handgeld, wie er es nennt, übrig, das nach seiner Rechnung für 4,7 Jahre reicht. Jens Brambusch ist braungebrannt, die blonden Haare von der Sonne ausgebleicht, der Stoppelbart auch.
Man sieht ihm nicht an, dass harte Zeiten hinter ihm liegen. Er verliert seinen Job bei einem bekannten Wirtschaftsmagazin, findet zwar schnell einen neuen. Aber er muss dafür von Hamburg nach Berlin umziehen. Seine Beziehung bleibt dabei auf der Strecke.
"Dann kam halt so eine Burnout-Geschichte mit rein, wo ich dann für ein Vierteljahr krankgeschrieben war", erzählt er. "Das Haus nicht verlassen konnte, weil dann irgendwie überall so Ängste und Barrieren waren. Was für mich sehr schwierig zu verstehen war, weil ich als Reporter überall in der ganzen Welt unterwegs war und auch aus Krisengebieten wie Afghanistan und dem Nahen Osten berichtet hatte. Und plötzlich war ich nicht in der Lage, das Haus zu verlassen. Das muss man erst mal selber verstehen. Aber klar war: Dass das wirklich so ein Signal war, dass sich etwas ändern sollte."
Ein blonder braungebrannter Mann mit Stoppelbart in weißem T-Shirt sitzt auf einem Boot. Im Hintergrund der Hafen.
Nach dem Burnout kam der Ausstieg: Wirtschaftsjournalist Jens Brambusch auf seinem Segelboot in Kas.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Er zieht an seiner Zigarette. Jeder hier am Steg in der Marina von Kas habe seine eigene Geschichte, erzählt Brambusch. Er schreibt die Geschichten auf und macht ein Buch daraus. Ganz ohne Arbeit geht es nicht.
Doris Bierett kann diese wunderschönen Buchten mit dem türkisblauen Wasser von ihrem Balkon aus sehen. Die 76-Jährige wohnt in einem kleinen Dorf ein paar Kilometer weg von Kas. Hier laufen die Hühner auf den Schotterstraßen. Wichtige Nachrichten gibt es über den Lautsprecher.

"Oh, là, là, die rote Doris"

Sie lebt ein so anderes Leben, wie das, das sie vor 14 Jahren zurücklässt, ein Leben auf der Bühne. Denn Bierett ist Kabarettistin und Sängerin, hat unter anderem Engagements mit Harald Juhnke und Jochen Busse, spielt im Ensemble von Dieter Hallervordens Kabarett "Die Wühlmäuse". Sie ist mit ihren rotgefärbten Haaren immer noch eine schillernde Figur - und fällt auf im kleinen Kas.
"Ich ziehe mich nett an, wenn ich die Stadt gehe", sagt sie. "Also: Oh, là, là, die Doris, die rote Doris, ja, die ist immer so elegant. Und mir macht das einfach Spaß."
Eine rothaarige ältere Frau mit rotem Lippenstift schaut durch eine große Brille in die Kamera.
Stand mit Harald Juhnke auf der Bühne: Die Kabarettistin und Türkeiauswandererin Doris Bierett.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Ihre Wohnung ist voller alter Plakate von ihren Auftritten, teils selbst gemalte Bilder und Bücher. Sie holt ein Fotoalbum heraus, das ihr ein Fan geschenkt hat. Darin sind Zeitungsartikel eingeklebt und Fotos von ihr in koketter Pose. Hier in der Türkei ist sie nur noch einmal aufgetreten, erzählt sie.
Dabei singt sie so gerne: "Gemeinsam singen mit den Türken. Ah! Ich habe ganz viele Erinnerungen daran. Meine Nachbarn von gegenüber fingen plötzlich auch an zu singen. Die ganzen alten schönen Lieder hier, die türkischen Volkslieder. Und so haben wir Weihnachten zusammen gefeiert. Wir haben Bayram zusammen gefeiert."

"Ich habe hier eine kleine Familie"

Zusammen – damit meint sie ihren früheren Untermieter, ein türkischer Polizist, den sie praktisch adoptiert hat. Er zieht aus, als er heiratet.
"Ich wurde als die Mutter vorgestellt und seine Tochter, die inzwischen geboren ist, heißt Dora", erzählt sie. "Und so habe ich eine kleine Familie. Allerdings haben die eine eigene Wohnung und so ergeht es mir wie vielen anderen Müttern auch: Der Sohn ist aus dem Haus und kommt nur einmal in der Woche vorbei."
Einkaufszone mit Souvenirshops in Kas in der Türkei
Jenseits vom deutschen Großstadtstress: Einkaufszone mit Souvenirshops in Kas© picture alliance / robertharding
Hanne Bahnsens Sohn lebt im Moment bei ihr in Kas, soll sie eigentlich in der Tauchschule unterstützen. Nur in der Hochphase von Corona dürfen sie nicht arbeiten, keine Kunden annehmen, nicht auslaufen. In Latzhose und blau-weißem Ringelshirt diskutiert sie mit ein paar Kollegen auf einem Tauchboot im alten Stadthafen von Kas.
Türkisch hat sie im Lauf der Jahre gelernt. Sie hat seit 2011 sogar neben der deutschen die türkische Staatsbürgerschaft. Was für eine Story, meint sie und erzählt, ein Beamter in Antalya verweigert ihr die erst wegen eines Fehlers:
"Ich durfte dann am selben Tag noch mal wieder vorsprechen und saß dann nicht nur einem Mann gegenüber, sondern einem 20-köpfigen Komitee und habe gedacht: 'Oh Gott, ich mit meinen drei Worten Türkisch.' Dann hat der Herr vom Vorstandstisch gesagt: 'Hanne war heute morgen schon hier und die Polizei hat einen Fehler gemacht.'
Daraufhin ist der Polizist aufgesprungen und hat sich aufgeregt. Dann haben sie alle riesig diskutiert, dann stand noch jemand vom Vorstandstisch auf und hat gesagt: 'Wir haben mit den Deutschen schon in Tschanakkale gekämpft, das hier werden wir wohl auch noch hinkriegen.' Dann wurde ich gefragt: 'Sprechen sie Türkisch?' Und ich so: 'Ich lerne immer noch.' Seine Antwort: 'Wunderbar, Sie können gehen.' Und ich so: 'Ja und jetzt?' Er: 'Ist angenommen, Sie können gehen.'"
Zwei Frauen stehen in der Sonne auf dem hinteren Teil des Tauchbootes und halten sich an einer Treppe fest.
Inclusive türkische Staatsbürgerschaft: Hanne Bahnsen (re.) mit Korrespondentin Karin Senz auf ihrem Tauchboot in Kas© ARD-Studio Istanbul
Die Dinge laufen nicht immer gerade in der Türkei und sie verstehe auch nach so vielen Jahren immer noch nicht alles. Aber genau das macht das Leben hier aus.

Als der Ex-Partner sich umbringt

Der Tauchbasis ihres Partners bringt sie in den Jahren darauf durch ihre Kontakte in der deutschen Tauchszene viele neue Kunden. Dann verliert sie plötzlich alles.
"Das ist jetzt eine etwas traurige Geschichte", sagt Hanne Bahnsen. "Er hat - nachdem wir so viele Jahre zusammengelebt haben - eine Türkin kennengelernt und geheiratet. Und diese Türkin war etwas heftig, daran war er nicht gewöhnt. Und nachdem er einen Monat verheiratet war, hat er sich selbst umgebracht. Das war schon bitter. Es ist jetzt sechs Jahre her, ich kann darüber sprechen. Er hat sie im Oktober kennengelernt, im Dezember hat er beschlossen zu heiraten. Ich habe gesagt: 'Bist du verrückt?' Dann hat er sich umgebracht. Da ist für mich natürlich eine Welt zusammengebrochen."
Hanne Bahnsen steht vor dem Nichts. Sie muss kurz schlucken.
"Weil wir nicht verheiratet waren, weil die Erben sofort gesagt haben: 'Raus aus der Wohnung!'", erzählt sie. "Da, muss ich wirklich sagen, die Menschen hier waren fantastisch. Die alten Leute, die mich als Ausländerin seit Jahren kennen – aber so viel Kontakt ist dann ja doch nicht da – die sind zu mir gekommen und haben gesagt: 'Hanne, du bleibst doch hier, du gehörst doch zu Kas, du wirst doch jetzt nicht weggehen?' Daran habe ich nicht einen Moment gedacht. Und ich habe dann wirklich so viel Hilfe gehabt hier, von den Tauchbasen. Ich hatte kein Boot, ich musste das zurückkaufen. Also da ist eine riesengroße Hilfe hier gewesen!"

Künstler mit viel Talent aber wenig Geld

Auch Doris Bierett macht ihre Erfahrung mit einem türkischen Mann, einem jungen Künstler, mit dem sie eine Galerie eröffnet.
"Ich habe das natürlich auch alles bezahlt, weil er ein ganz armer, armer Mensch war und immer musste irgend etwas besorgt werden", erzählt sie. "Immer fehlte irgend etwas zu Hause. Und dann musste das Gartengerät erneuert werden und dann war das Dach nicht, naja. Dann habe ich ihm geholfen. Ich habe mir aber gesagt, bis zu einer gewissen Summe und dann muss er selber sehen, wie er zurechtkommt. Nun und als das Geld weniger wurde, da wurde auch seine Begeisterung etwas geringer."
Eineinhalb Jahre sind sie zusammen, bis er anfängt sie zu bestehlen, erzählt sie. Sie geht nicht zur Polizei, hat Angst ausgelacht zu werden.
Stattdessen versucht sie ihren Frieden damit zu machen: "Man muss das dann auch relativieren. Ich hatte ja auch anderthalb Jahre, die sehr schön waren. Und ich habe so viel gemacht und ich bin hier bekannt geworden bei den Türken. Ich habe mit den Kindern gespielt und Musik gemacht. Und das war es mir eigentlich im Nachhinein auch wert."
Am Hafen von Kas liegen zahlreiche große und kleine Schiffe vor Anker. Davor an Land die Verkaufsstände, die Ausflugstouren anbieten.
Expeditionen in die Ägäis: Ausflugsschiffe am Stadthafen von Kas© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Es ist nicht ihre einzige schlechte Erfahrung in der Türkei. Gleich in der ersten Zeit hier kauft sie ein Grundstück, etwas blauäugig, sagt sie jetzt selbst. Denn sie bekommt keinen Grundbucheintrag.
"Mir wurde noch gesagt, hier reicht ein Handschlag", sagt sie. "Und eine Rechtsanwältin, mit der ich dann gesprochen hatte, die sagte: 'Ja, was glauben Sie denn, wo Sie sind? Glauben Sie denn, wir sind hier am Ende der Welt? Das geht hier genauso wie in Deutschland!' Oh ja, das habe ich mir hinter die Ohren schreiben müssen."

Sie hat sich in das Land verliebt

Doris Bierett ist selbstkritisch und denkt dabei an ihre ersten Urlaubserfahrungen in den 80ern in Bodrum an der Ägäis.
"Ich bin ja sehr zutraulich und sehr naiv", sagt sie. "Und da war einer, der hatte ein Haus direkt am Wasser. Und anstatt da in diesem großen Hotel zu sein, bin ich mit einer Freundin immer da runter gegangen und eines nachts hat er gesagt: 'Wir fahren jetzt zu einer Hochzeit!' Dann haben wir uns hinten auf einen Lastwagen gesetzt und sind durch die Nacht gefahren und ich dachte noch: 'Oh Gott! Was passiert jetzt?'"
Es ist nichts passiert – außer, dass sie sich in das Land verliebt.
Wochenlang hängt Jens Brambusch in der Hochzeit von Corona im Hafen von Kas fest. Erst Ende Mai kann er mit seiner türkischen Freundin für ein paar Tage die Küste hochsegeln.
Eigentlich haben sie für die Zeit ihre erste große Tour mit Freunden über mehrere Wochen im Mittelmeer geplant. Er zuckt die Achseln und erinnert sich an sein Motto: "Mein Plan ist, keinen Plan zu haben."

Alles schön langsam angehen

Er ist noch nicht ganz geheilt von seinem Burnout, weiß der 48-Jährige.
"Wenn ich auch so diese Panikattacken hatte, wenn das jetzt mal so anflugweise kommt – was mich wahrscheinlich auch mein ganzes Leben irgendwie begleiten wird, freut mich das mittlerweile witzigerweise", sagt Jens Brambusch. "Weil es wirklich so eine ganz abgeschwächte Form davon ist und mich aber trotzdem noch mal daran erinnert, warum ich eigentlich hier bin und wie schlecht es mir vorher ging. Und dann freue ich mich und sage mir: 'Wenn du überlegst, wie schlimm das früher war und wie einfach es jetzt ist.' Und dann ist es auch mehr oder weniger schon wieder vorbei."
Das Leben im Kas tickt langsamer als das in Deutschland. Das tut nicht nur ihm gut.
"Ich kann hier richtig schön faul sein. Und das konnte ich vorher nicht. Ich musste wirklich hart arbeiten. Ich habe hier eins gelernt: Jawasch, jawasch. Alles schön langsam angehen. Hier überlegt man lange, bevor man etwas sagt. Sie rennen auch nicht. Man geht langsam. Jemand der rennt, ist auf der Flucht."
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