Perspektivwechsel für den Unterricht
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In Polen wird Napoleon überwiegend als Befreier, in Deutschland eher als Eroberer gesehen. Das deutsch-polnische Geschichtsbuch „Europa – unsere Geschichte“ stellt beide Sichtweisen vor. Der vierte Band der Schulbuchreihe wartet in Polen noch auf Zulassung.
Eckhardt Fuchs, Leiter des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung, glaubt an den hohen didaktischen und wissenschaftlichen Standard der Geschichtsbücher an deutschen Schulen, im Prinzip:
"Dennoch muss man auch deutlich sagen, dass nach wie vor der deutsche Geschichtsunterricht und damit auch die Schulbücher sehr national geprägt sind. Das heißt, Schülerinnen und Schüler lernen Geschichte aus einer dezidiert nationalen Perspektive."
Zwölf Jahre lang hat ein Team von polnischen und deutschen Wissenschaftlern daran gearbeitet, nationale Einseitigkeiten im Geschichtsunterricht beider Länder zu überwinden. Dafür hat das Georg-Eckert-Institut in Braunschweig mit dem Zentrum für Historische Forschung der polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin zusammengearbeitet. Initiator auf polnischer Seite war der Historiker Robert Traba.
"In den deutschen Schulbüchern zum Geschichtsunterricht fehlten bisher viele Themen, die Polen oder im weiteren Sinne das östliche Europa betreffen. Die deutschen Schulbücher kommen aus der westdeutschen Tradition. Sie betonen vor allem die Verbindung zum Westen Europas."
Das Ergebnis der deutsch-polnischen Zusammenarbeit ist ein Lehrwerk mit vier Bänden für die Sekundarstufe 1 in Deutschland bzw. die vierte bis achte Klasse der Grundschulen in Polen.
Unterschiedliche Blickwinkel
"Europa – unsere Geschichte" spannt den Bogen von der Vor- und Frühgeschichte bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Es enthält umfangreiches Quellenmaterial und es berücksichtigt politisch und national unterschiedliche Blickwinkel. Vor allem in Bezug auf Polen und Deutschland – aber auch auf andere Länder Europas – führt es vor, wie man sich kollektiv an Geschichte erinnert.
Was ebenfalls von Bedeutung ist: Es geht nicht nur um die Erinnerungskultur von Nationalstaaten, sondern auch von Grenzregionen, zum Beispiel zwischen Deutschland und Frankreich oder zwischen Deutschland und Polen, sagt Marcin Wiatr:
"Grenzregionen, wo Menschen leben, die mit sehr multiplen Identitäten aufgewachsen sind, wo man von einer ganz klaren nationalen Identität wohl nicht sprechen kann: Das alles sind Überlappungszonen, Kontaktzonen, Dialogräume."
Marcin Wiatr vom Georg-Eckert- Institut weiß, wovon er spricht. Er stammt auch dem oberschlesischen Gliwice, früher Gleiwitz, und vertritt beim deutsch-polnischen Schulbuchprojekt die deutsche Seite. Wiatr ist überzeugt, dass die Geschichten der Grenzregionen ein wesentlicher Teil der verflochtenen europäischen Geschichte sind.
"Bislang sind europäische Grenzregionen in Schulbüchern, national geformten Schulbüchern eigentlich kaum zu sehen. Und die wollten wir in unserem Schulbuch ganz besonders zur Sprache bringen oder dazu beitragen, dass sie einfach sichtbarer werden. Am Rande ist man ja kaum zu sehen. Aber vom Rande aus, von den europäischen Peripherien aus, kann man möglicherweise sogar etwas mehr sehen."
Polen spielte bislang marginale Rolle im Geschichtsunterricht
Die stärkste Korrektur nationaler Sichtweisen bringt der vierte und letzte Band der Reihe. Er ist dieses Jahr erschienen und behandelt die Zeit von 1918 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts.
Im deutschen Geschichtsunterricht spielte Polen im 20. Jahrhundert eine marginale Rolle. Hier erfahren deutsche Schülerinnen und Schüler nun erstmals Einzelheiten über den deutschen Besatzungsterror zwischen 1939 und 1945, die gezielte Ermordung polnischer Eliten zu Kriegsbeginn, die Existenz eines polnischen Staats im Exil, das Ausmaß des polnischen Widerstands im Untergrund einschließlich des nationalpolnischen Warschauer Aufstands 1944, der hierzulande immer noch mit dem Aufstand im Warschauer Getto von 1943 verwechselt wird.
Doch auch der Geschichtsunterricht an polnischen Schulen könnte sich durch das Gemeinschaftsprojekt ändern, glaubt Robert Traba:
"Was für Polen wichtig ist, das ist vor allem die Vielzahl von Perspektiven, mit der man auf die gleichen Ereignisse schauen kann, dass die Geschichte nicht Ausdruck einer nationalen oder politischen Wahrheit ist. Das ist eine Errungenschaft der deutschen Fachdidaktik, die in Polen bislang weniger bekannt war und sich nun verbreiten kann."
Polnische Version noch nicht zugelasssen
Man habe viel gestritten, aber in der Sache, nie entlang von nationalen Trennlinien, beteuern die polnischen und deutschen Schulbuchmacher übereinstimmend. Auch hätten sich die Regierungen beider Länder inhaltlich aus dem Projekt herausgehalten.
In Polen ist das nicht selbstverständlich. Denn die aktuelle nationalkonservative PiS-Regierung mischt bei der Darstellung von Geschichte ständig mit. Die Nagelprobe kommt demnächst. Während "Europa – Unsere Geschichte" in Deutschland bereits als Lehrmittel zugelassen wurde, wartet man in Polen noch auf die endgültige Genehmigung durch die Regierung. Anfang des nächsten Jahres sollte sie vorliegen.