Deutsch-irische Familienlegenden

Der deutsch-irische Autor Hugo Hamilton legt unter dem Titel "Legenden" ein gut aufgebautes Buch über die schmerzhafte Suche eines Einzelgängers nach dessen Herkunft vor. Hauptheld ist Gregor, ein Musiker Anfang 60 im Berlin der Jetzt-Zeit, der sein ganzes Leben lang nicht weiß, ob seine Eltern seine leiblichen Eltern sind, oder ob sie ihn nur adoptiert haben.
Was ist Legende und was ist Wahrheit? Diese Frage dürfte einer der stärksten Antriebe für das Schreiben von Literatur sein. Die Suche nach dem, was wirklich stimmt, was wirklich passierte. In den meisten Romanen wird die Beantwortung der Frage bis zum Schluss offen gehalten, denn es ist oft der Grund, warum man als Leser überhaupt dabeibleibt: die Suche nach der Wahrheit. So auch hier, bei Hugo Hamilton.

Ein noch wenig bekannter Autor, und was wie ein Künstlername klingt, ist der Herkunft des Schriftstellers geschuldet - der Vater Ire, die Mutter Deutsche. Geboren wurde Hamilton in Dublin, er schreibt auf Englisch - die Übersetzung besorgte sein Schriftstellerkollege Henning Ahrens -, aber er lebt in beiden Hauptstädten, in Dublin und in Berlin. Auch für Hamilton persönlich dürfte Identität also ein wichtiges Thema sein, aber für seinen Haupthelden Gregor, einem Musiker Anfang 60 im Berlin der Jetzt-Zeit, ist sie eine fast existenzielle Frage.

Gregor weiß sein ganzes Leben lang nicht, ob seine Eltern seine leiblichen Eltern sind, oder ob sie ihn nur adoptiert haben. Seine Mutter sagt, sie sei seine leibliche Mutter, sein Vater könnte kaum widersprechen, denn er war lange an der Front als sein Kind noch sehr klein war. Es geschah im Krieg, als eine Bombe ihr Haus traf und in der Erinnerung der Mutter auch den "echten" Gregor tötete.

Vielleicht wurde er aber auch gar nicht getötet? Vielleicht wurde die Mutter einfach nur traumatisiert und ihre Erinnerung trügt sie so dramatisch? Woran sie sich aber sicher erinnern kann, sind unendliche Flüchtlingszüge nach Westen, sterbende Menschen am Straßenrand, ein Land im moralischen Zusammenbruch, ein Kind, das ihr fast in den Armen stirbt, weil es keine medizinische Versorgung bekommt.

Als Gregors Vater von der Front zurückkommt, immer noch überzeugt von "der Sache", erzieht er ihn zu Gefühllosigkeit und Strenge. Das Verhältnis des Jungen zu den Eltern ist mehr als getrübt. Später zeigt er sich, man ahnt es, kaum bindungsfähig, obwohl er lange versucht, seine Familie, seine Frau Mara, seinen Sohn Daniel, zusammen zu halten.

Gregor fehlt, was man braucht, um glücklich sein zu können: eine Herkunft. Also erfindet er selbst Legenden. Er, der Sohn eines Täters, sei ein jüdisches Findelkind und dass er nicht beschnitten gewesen sei, beweise nur, wie stark man damals seine Herkunft verstecken musste, um nicht von den Nazis ausfindig gemacht zu werden. Die Beschneidung besorgt er selber als erwachsener Mann. Aber vielleicht ist es ja auch keine Legende?

Seine Frau Mara jedenfalls hält, als sich die beiden in den 60ern kennen lernen, das angeblich Jüdische Gregors hoch wie ein Heiligtum und scheint mit ihrer Liebe die Schuld der Deutschen persönlich abtragen zu wollen. Sie zwingt ihn fast zur Legende, aber er selbst merkt bereits, wie sie bröckelt und wie er, wenn auch spät, sich nicht mehr hinter seiner Geschichte verstecken kann.

Er muss mehr über seine Herkunft erfahren. Er weiß allerdings auch: Wer auch immer er ist, er würde "nie an den Jungen heranreichen können, der bei dem Luftangriff ums Leben gekommen war", wie es an einer Stelle heißt.

Hugo Hamilton, der dem Buchmarkt kürzlich mit einem "Irischen Tagebuch" aufgefallen ist, verfolgt seine Romangeschichte mit Konsequenz. Er legt einen gut aufgebautes Buch über die schmerzhafte Suche eines Einzelgängers nach dessen Herkunft vor, und nicht nur das, auch über das Zusammenbrechen von Legenden, auf denen Menschen zum Teil ihr ganzes Leben aufbauen.

Schade nur, dass Hugo Hamilton zu selten den passenden Ton für seine Geschichte findet. Wenn er doch die Wucht der ersten Seiten halten könnte, als er kühl, präzise und in schockierender Detailgenauigkeit die Verheerungen eines Bombenangriffs beschreibt. Hamiltons Sprache legt im Laufe des Romans einen Schlingerkurs ein. In seinen schlechtesten Momenten (die zum Glück das Buch aber nicht dominieren) rutscht er wahlweise in die Polit-, Familien-, oder noch schlimmer, Gefühlsklischees ab.

Ein Beispiel? "Gregor drückte alle seine Gefühle in der Musik aus." Ach, Gottchen.
Schade! Eine gute Geschichte, eine interessante Konstellation, nur die Konsequenz der Form fehlt.

Rezensiert von Vladimir Balzer

Hugo Hamilton: Legenden
Roman, Aus dem Englischen übersetzt von Henning Ahrens,
Luchterhand Literaturverlag, München 2008,
304 Seiten, 19,95 Euro