Kafkaeske Szenen auf der Visastelle
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West-Berliner, die in den Ostteil der Stadt wollten, konnten ab 1972 im „Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten“ einen entsprechenden Antrag stellen. Und dort groteske Auswüchse der DDR-Bürokratie miterleben.
Nachts lebte die Jebensstraße am Bahnhof Zoo auf. Hier, im Zentrum West-Berlins, war der Straßenstrich der Homosexuellen, hier lungerten Besoffene auf den Bürgersteigen herum, Obdachlose strebten zur Bahnhofsmission. Vorbei an den Hinterlassenschaften der Nacht, im Urindunst dieser Straße, eilte ich auf das Bürogebäude mit der Hausnummer zwei zu.
Goldfarbene Konservendosen als Aschenbecher
In dem Haus befand sich im ersten Obergeschoss das „Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten“. Täglich kamen 2000 bis 2500 Menschen her. Im Hof standen zwei blitzblank geputzte hellgraue DDR-Mannschaftswagen vom Typ Barkas B 100. In den Fluren mit den hellen Holzbänken roch es nach Bohnerwachs und Zigarettenrauch. Goldfarbene Konservendosen dienten als Aschenbecher.
Wie Berlin war auch das Besucherbüro geteilt in einen Raum unter westlicher Regie und einen unter östlicher. Von den westlichen Verwaltungsbeamten erhielt der Besucher eine Wartemarke. Sie berechtigte zum Schlangestehen. Einer von ihnen, der anonym bleiben wollte, blickte in den letzten Tagen des Büros zurück:
„Wir hier im Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten haben ja den ganzen Auskunftsdienst gemacht, wir haben die Leute beraten, wir haben hier die Anträge durchgeguckt.“
Auf dem grün-weiß gestreiften „Antrag auf Einreise in die DDR für Personen mit ständigem Wohnsitz in Berlin (West)“ mussten auch das Kennzeichen des „Kfz“, die „Ausgeübte Tätigkeit“ und die bevorzugte „Grenzübergangsstelle“ eingetragen werden. War der Antrag vollständig ausgefüllt und das Warten vorbei, wies mir einer der westlichen Bediensteten den zuständigen Bearbeiter zu: „Beim zweiten Herrn den hinteren Stuhl bitte.“
Dunkelbraune Uniform, weißes Hemd, Krawatte
Beim Eintritt in den Raum der Ost-Bediensteten bot sich eine kafkaeske Szene. An Schreibtischen saßen sechs Männer mit dunkelbraunen Uniformen. Sie trugen weißes Hemd und Krawatte und am Revers ein rotes Emaille-Schild: „Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten“.
Obwohl sie Gesandte des Ministerrates der DDR waren, trugen sie kein Hoheitszeichen der DDR. Die Männer wirkten wie Roboter. Sie verzogen keine Miene. Sie stempelten, ordneten den Antrag in eine Schublade, teilten mit, ich möge in zwei Tagen wiederkommen, um den Berechtigungsschein auf Einreise in die DDR abzuholen.
Noch zwei Tage vor Schließung des Büros, am 22. Dezember 1989, waren die Herren nicht ansprechbar – zumindest für die RIAS-Reporterin Birte Lock:
„Nun haben wir ja versucht, mit den Kollegen aus dem Osten zu sprechen, die sitzen hier 20 Meter weiter weg. Das war leider nicht möglich. Ich habe mich ein bisschen gewundert, denn es hat sich ja zum Glück in den letzten Tagen und Wochen einiges getan.“
Nur der anonyme West-Mitarbeiter zeigte sich in den letzten Tagen dieser Passierscheinstelle gesprächig: „Und um ganz ehrlich zu sein: Man kommt sich doch ein bisschen überflüssig vor. Denn man hat im Hinterkopf: Ab dem 24. kann man so rüber. Und wir liegen jetzt in den letzten Zügen, und man kommt sich doch so ein bisschen merkwürdig vor. Man sitzt hier rum, und niemand kommt.“
DDR-Umschlag, Format A6, Pergament-Sichtfenster
17 Jahre, 6 Monate und 19 Tage wurde hier gestempelt und unterschrieben, die Einreise genehmigt und auch abgelehnt.
Nach zwei Tagen kehrte ich zurück in die Jebensstraße. Einer der Unberührbaren überreichte mir einen DDR-Umschlag, Format A6, mit Pergament-Sichtfenster. Darin befanden sich der Berechtigungsschein „bis 2 Uhr des auf die Einreise folgenden Tages in der Deutschen Demokratischen Republik“, dazu die grüne Ein- und Ausreisekarte und eine Zoll- und Devisenerklärung.
Die Herren vom Ministerrat – genauer: vom Ministerium des Innern der DDR – blickten ernst. Ihre Gesichter haben sich mir eingebrannt: Der kleine Dicke mit der Glatze und der braungeränderten Brille, der schwarzhaarige, der an den ARD-Sportschau-Moderator Werner Zimmer erinnerte.
Erst am letzten Tag des Büros, am 23. Dezember 1989, traten die Männer in den braunen Anzügen als Menschen auf. Der Leiter der Ost-Mitarbeiter nannte seinen Namen: Eberhard Unger, 45 Jahre alt. Unger schenkte Kindern Schokoladenweihnachtsmänner und ließ im Hinterzimmer das Radio laufen.
Wer Franzke ist, sagte er nicht
Ein Geheimnis aber hütete er bis zuletzt. Auf den Visa, die die Herren in braun ausstellten, unterschrieb seit jeher ein Herr Franzke. Wer das sei, fragte ich Unger. Er zuckte mit den Schultern.
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