Deutsch-deutsche Geschichten

Der Ikarus von Dresden

Neu gestaltete Stasi-Gedenkstätte in Dresden. Der Zeitzeuge Michael Schlosser im Mai 2014 vor dem selbstgebauten Flugzeug, mit dem er in die BRD flüchten wollte.
Neu gestaltete Stasi-Gedenkstätte in Dresden. Der Zeitzeuge Michael Schlosser im Mai 2014 vor dem selbstgebauten Flugzeug, mit dem er in die BRD flüchten wollte. © imago/Sven Ellger
Von Dieter Bub · 16.09.2015
Ein Trabant-Motor, eine Benzinpumpe vom Wartburg und Polyesterreste – daraus hatte sich Michael Schlosser ein Flugzeug gebaut, mit dem er 1980 in den Westen fliehen wollte. Wenige Tage vor seiner Flucht wurde er verhaftet. Am 3. Oktober ist sein Flieger auf der Einheitsfeier in Frankfurt am Main zu sehen.
"Er ging raus, kam dann kurzerhand wieder rein, hatte den Teppichklopfer in der Hand und dann sind wir beide um den Tisch gerannt. Ich vorneweg, er hinter mir her und hat dann mit diesem Gerät so lange auf mich eingeschlagen, bis nur noch der Stil übrigblieb und ich dann kurzerhand zur Wohnzimmertür rannte und dann generell rausrannte und hab mich dann erstmal versteckt, sodass ich aus dieser Prügeltracht erstmal rausgekommen bin."
Diese Züchtigung durch seinen Vater sollte für den damals neun Jahre alten Michael Schlosser zum traumatischen und wegweisenden Erlebnis für sein Leben werden. Es war der 17. Juni 1953, der Tag, an dem auch in Dresden die Rote Armee den Volksaufstand in der DDR, die "revanchistische Revolte", mit Waffengewalt unterdrückte.
Vater Schlosser hatte auch an diesem Tag aus Überzeugung als Parteisekretär sein SED-Abzeichen getragen, war entschlossen auf die Straße gegangen, hatte sich unter die Demonstranten gemischt, um sie zu agitieren. Statt ihm zuzuhören, wurde er von der aufgebrachten Menge verprügelt. Nur durch Flucht konnte er sich in Sicherheit bringen. Als die Revolte niedergeschlagen war, kehrte er zu seiner Familie zurück.
Michael Schlosser erinnert sich, wie der Vater zu ihm sagte:
"Schaff mal den Blumenstrauß raus zu unseren russischen Freunden. Vor der Haustür stand ein Panzerspähwagen von den Russen und dort sollte ich die Blumen rausschaffen und die beglückwünschen für ihren heutigen Tag, das, was die da geschafft haben und ich hab zu ihm gesagt, den schaffste mal schön selber raus und ist dann auch gegangen. Nach ´ner Weile kam er dann rein und hatte einen Brief in der Hand."
Es war ein Schreiben der Schulleitung mit der Beschwerde, der Sohn habe seit längerem die Pioniernachmittage geschwänzt. Es folgte die wütende Prügelorgie des Vaters.
"Mit Prügel kann man doch im Sozialismus keine Menschen erziehen."
Die Großeltern beendeten die Pein des Kindes und holten den Jungen nach Thüringen. Dort lebte er wohl behütet bis zu seinem 16. Geburtstag, bevor er nach Dresden zurückkehrte und eine Lehre begann.
"Ich hatte, als ich in Dresden war, den Traum gehabt: Du richtest dir eine eigene Werkstatt ein, du reparierst Fahrzeuge in deiner eigenen Werkstatt und habe dann 1972 den Antrag gestellt zur Eröffnung eines KFZ-Betriebes mit allem Service, mit allem Drum und Dran – ist aber abgelehnt worden."
Er galt als "gesellschaftlich nicht geeignet", brachte es aber mit seiner Qualifikation 1976 zum Leiter des Fuhrparks beim Fernsehen der DDR in Dresden.
Fliehen mit einem Hubschrauber
1980 hörte er im Urlaub auf einem Campingplatz in der Tschechoslowakei vom Aufruf des Springer-Konzerns, der eine hohe Prämie für einen Fluchtversuch demjenigen zahlen werde, dem es gelänge, mit einem Hubschrauber auf dem Dach des Hochhauses unmittelbar hinter der Berliner Mauer zu landen. Schlosser bot an, stattdessen mit einem selbstgebauten Flugzeug hinter dem Grenzübergang Hirschberg–Rudolfstein zu landen. Er machte sich im Hühnerstall seines Gehöfts an die Arbeit. Zwei Jahre später war der Eigenbau fertig.
"Die Bespannung bestand als Polyester, aus Resten von abgedrehten Sendungen vom DDR–Fernsehen, da wurde der ganze Rumpf gefertigt, und als Antriebmaschine hatte ich einen Trabant-Motor, den hatte ich umgebaut. Dann kam noch ´ne Benzinpumpe vom Wartburg dran und dann noch Einzelteile und umgebaute Schubkarrenräder."
Zum Probeflug wählte Schlosser einen sowjetischen Militärflugplatz in der Nähe von Dresden. Am Wochenende, dachte er, sei dort kein Flugbetrieb.
"Wie ich gerade das Flugzeug abladen will, kommen aus dem Gebüsch, dem Gehölz sieben Russen raus, allerdings ohne Waffen, ich dachte, ich geh mal vor, bin ich auf den Unteroffizier los und er kam auch auf mich zu."
Schlosser erklärte, das DDR–Fernsehen plane einen Film. Der Unteroffizier glaubte die eigenartige Geschichte.
"Er ist dann zurückgegangen und hat seine Soldaten animiert, mir zu helfen und das Flugzeug mit abzuladen."
Ausspioniert von der Stasi
Schlossers Start gelingt. Die Maschine hebt ein paar Meter ab und rollt dann zurück. Nach der Generalprobe wählt Schlosser als Fluchttermin den 11. November, den Beginn der Karnevals-Saison, einen Tag, an dem überall gefeiert wird. Aber – in der Fahrbereitschaft gibt es einen neuen Mitarbeiter, und der spioniert für den Staatssicherheitsdienst. Am 28. Oktober 1980 wird Schlosser verhaftet.
"An diesem Morgen sehe ich Fußspuren im Kies, aber so viele. Und als ich dann die Tür zum Hühnerstall geöffnet hatte, sah ich auch drinnen Fußspuren, und da war mir klar, jetzt war jemand drin gewesen – jetzt wissen sie, was hier drinsteht."
Schlosser wird verurteilt. Nach einem halben Jahr in Bautzen wird er in die Bundesrepublik entlassen. Schon zwei Wochen später bekommt er Besuch.
"Wie ich 14 Tage im Westen bin, kriege ich einen Anruf aus Dresden. Hole mich morgen früh in Frankfurt ab. Ich bin morgen früh auf´m Bahnhof in Frankfurt. Ich dachte, für mich bricht die Welt zusammen. Da kam diese ehemalige Mitarbeiterin vom DDR–Fernsehen an, hat angeblich einen Ausreiseantrag gestellt gehabt."
Die Kollegin zieht zu ihm. Sie werden ein Paar. Sie möchte ihn heiraten. Rechtzeitig entdeckt er: Sie ist als Spitzel der Staatssicherheit auf ihn angesetzt. Er setzt sie vor die Tür. Michael Schlosser erfüllt sich seinen Traum und eröffnet in Alzey seine eigene Autowerkstatt. Sie wird mehrfach überfallen und zerstört. Er ist überzeugt: Es ist das Werk der Stasi im Westen.
1990 verkauft er seinen Betrieb, kehrt nach Dresden zurück. Sein Flugzeug ist spurlos verschwunden. Er baut zwei Exemplare für Ausstellungen und eine dritte Maschine als Demonstrationsobjekt nach.
"Damit die Leute sehen, was man sich in der DDR hat einfallen lassen, um aus dem Land herauszukommen."
Diese Maschine wird er auch am 3. Oktober beim Festakt zum 25. Jahrestag der Einheit in Frankfurt am Main zeigen.
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