Derb, provozierend und blasphemisch

Das literarische Genre „graphic novel“ – ein Roman in Bildern, findet immer mehr Aufmerksamkeit. Zu den prägenden Autoren der Gattung gehört der 1961 geborene Amerikaner Daniel Clowes, dem sogar die New York Times bescheinigt, die Welt mit mehr Witz und Einsicht zu erkunden.
Nein, diesen Wilson kann man eigentlich nicht mögen. Er ist aufdringlich und penetrant, rechthaberisch und beleidigend. Er ist ein hässlicher Misanthrop, und es ist ein Wunder, wie Daniel Clowes trotz allem Mitgefühl und Nähe zu diesem abstoßenden Menschen erzeugt.

In 70 Einzelszenen schaut man in Wilsons Dasein hinein. Früher hat er Philosophie studiert, jetzt ist er arbeitslos, mittleren Alters und ohne jedes Talent zur Freundschaft. Außer einem kleinen Hund hat er alles Lebendige aus seiner Nähe vergrault. Seine Frau hat ihn vor 16 Jahren verlassen, seine Mutter ist schon lange tot, nun stirbt auch noch sein Vater. Als er sich so völlig alleine sieht, scheint sich Wilson doch mal nach einem menschlichen Wesen zu sehnen und beginnt, nach seiner Ex-Frau zu suchen. Als er sie findet und noch dazu eine Tochter, von deren Existenz er bis dahin gar nichts wusste, scheint sein Leben wieder eine Perspektive zu haben.

Daniel Clowes treibt Wilsons Geschichte in großen Sprüngen voran, oft vergehen Jahre zwischen den einzelnen Szenen. Die Methode dabei ist die Überraschung, am Ende jeder Seite bekommt die aktuelle Szene, manchmal aber auch die ganze Geschichte, einen völlig neuen Dreh. Ein Beispiel: Wilson sitzt mit seiner Frau Pippi und der wieder gefundenen Tochter an einem See. Er gerät in einer plötzlichen positiven Aufwallung ins Schwärmen, beschwört die Familienbande zwischen ihnen, das Gefühl, endlich einmal das Richtige zu tun. Pippis Kommentar dazu: „Ich weiß nicht. Die Sache mit der Entführung ist mir ein bisschen unangenehm, Wilson.“ Mehr als diese Andeutung erfährt man nicht; offenbar hat Wilson seine minderjährige Tochter aus ihrer Adoptivfamilie entführt. Das bringt ihn auf Jahre in den Knast und seine katastrophale Lebensbahn an einen neuen Tiefpunkt.

Wilsons Geschichte ist derb, provozierend, blasphemisch, geprägt von einem trockenen, bösen Witz. Ein scharfer Kontrast dazu ist die äußere Form: Wie in alten Zeitungen füllen die einzelnen Szenen je eine Seite. Mit sanften Farben und klaren Formen wird eine scheinbar heile Welt entworfen, die am Ende jeder Episode zuverlässig in Trümmer fällt. Zumeist arbeitet Clowes in einem sehr präzisen, realistischen Stil, der an seine früheren Bücher erinnert. Dann aber wechselt er abrupt zu einfarbigen Seiten, ins Schwarz-Weiße oder zum Cartoon, in dem Wilson als gepresste Watschel-Wurst mit Ballonkopf herumstolpert. Diese verschiedenen Stilebenen des Buches differenzieren das Bild von Wilson, dem engagierten Misanthropen. Am Ende seiner Geschichte sieht man ihn grau und kahl, als alten Mann. Ein wenig Einsicht in den Wahnwitz seines Menschenhasses scheint ihm zu dämmern, aber man ahnt: Sein wahres Ich wird sich immer wieder durchsetzen.

Fast gleichzeitig mit „Wilson“ ist ein anderes Buch von Daniel Clowes auf Deutsch erschienen; „David Boring“ aus dem Jahr 2000, vom „Time Magazine” geadelt als eine der „Zehn besten englischsprachigen Graphic Novels”. Der 19-jährige David Boring gerät da in eine wilde, aber gleichzeitig von einer durchdringenden Melancholie geprägte Story. Er verliebt sich in eine geheimnisvolle Frau, er wird niedergeschossen, flieht vor der Polizei, versteckt sich auf einer einsamen Insel, während der Weltuntergang bevorsteht. Verglichen mit „Wilson“ ist „David Boring“ eine veritable Action-Story. Im Mittelpunkt steht das Seelenleben eines von innen und außen gejagten Teenagers, und das zeichnet Daniel Clowes so überzeugend, dass man seinen „David Boring“ als neuen „Fänger im Roggen“ gefeiert hat.

Besprochen von Frank Meyer

Daniel Clowes: Wilson
Aus dem Englischen von Doris Engelke.
Eichborn Verlag, Frankfurt 2010.
80 Seiten, 19,95 Euro

Daniel Clowes: David Boring
Aus dem Englischen von Heinrich Anders.
Reprodukt Verlag, Berlin 2010.
118 Seiten, 20 Euro