Der zweite Gegner

Wenn der Kopf beim Sport im Wege steht

Die Tennisspielerin Andrea Petkovic
Manchmal ist der Erfolg vor allem Kopfsache - auch bei der deutschen Tennisspielerin Andrea Petkovic. © dpa / picture alliance / Andy Rain
Von Marina Schweizer · 30.08.2015
Psychologie und Mentaltraining nehmen im Leistungssport einen immer größeren Raum ein. Denn nicht nur Kondition und Physis entscheiden über sportlichen Erfolg oder Misserfolg - im entscheidenden Moment kommt es auf den Kopf an.
"Ich hatte davor zwei Mal in der ersten Runde verloren, war in einer schlechten Verfassung. Und musste dann im Fed Cup retten, was zu retten ging. Angie Kerber hatte verloren, bei 0:1 gegen Sam Stosur bin ich auf den Platz gegangen, die sehr gut zuvor gespielt hatte und ich habe nach drei Stunden vierzig, oder drei Stunden zwanzig 12 zu 10 im dritten Satz gewonnen. Und da hat eindeutig der Kopf entschieden."
Der 7. Februar 2015: Die deutschen Damen spielen in der ersten Runde des Fed Cups, diesem wichtigsten Mannschaftswettbewerb, gegen Australien. Für Tennisspielerin Andrea Petkovic ist es der Moment in ihrer Karriere, in dem die mentale Stärke alles entscheidet.
"Alles, woran ich trainiert hatte, alle Sachen, die ich immer so gut machen wollte, wie ich konnte, sind in diesem Moment einfach aus mir herausgeflossen, weil ich es geschafft hatte, meinen Kopf auszuschalten und nur im Moment zu leben."
Andrea Petkovic gehörte in diesem Jahr schon zu den Top Ten-Spielerinnen der Welt. Sie ist bekannt für ihre Präsenz auf dem Platz – die 27-Jährige zeigt ihre Emotionen wie keine andere deutsche Tennisspielerin. Die 1,80 Meter große, sehnige Petkovic erzählt diese Geschichte an einem trainingsfreien Tag im Vereinsheim ihres Darmstädter Tennisclubs.
Gerade im Tennis spielt die Psychologie eine entscheidende Rolle. Stärke- und Schwächephasen müssen bewältigt werden. Die Partie gegen Sam Stosur im Fed Cup steht beispielhaft für Spiele, in denen die guten Phasen überwiegen. Aber der Kopf blockiert Andrea Petkovic auch oft.
Sie fühlt sich meistens dann blockiert, wenn ihre eigenen Ansprüche zu groß sind. Druck von außen macht sie eher stark. Genau anders herum scheint es bei der früheren Biathletin Magdalena Neuner gewesen zu sein: Die Bayerin litt während ihrer Karriere vor allem unter dem Medienrummel um ihre Person: Kurz nach ihrem Karriereende im Jahr 2012 spricht sie offen darüber, wie sehr sie die Erwartungen von außen oft fast erdrückt haben.
"Olympia ist einfach ein gigantischer Druck. Das Wichtigste ist dort Olympiagold zu holen. Und man hat auch unheimlich Angst vor Niederschlägen oder vor schlechten Ergebnissen. Aber man muss da halt an sich arbeiten."
Am Ende stehen trotz des Drucks zwei olympische Goldmedaillen und eine Silbermedaille. Damals weiß sie bereits, wie sie mit Erwartungen umgehen muss. Schon früh in ihrer Karriere macht sie das, was in der modernen Welt des Leistungssports inzwischen zum guten Ton gehört: Sie sucht sich einen Mentaltrainer. Jemanden, der ihr dabei hilft, mit diesen hohen Ansprüchen von außen, dem negativen Druck umzugehen.
"Er hat mir geholfen, eine andere Sicht auf die Dinge zu bekommen. Nicht immer danach zu suchen, was man jetzt nicht mehr hat, sage ich jetzt mal grob, sondern auch was man bekommt. Welche Möglichkeiten, welche Chancen. Wie ich es jetzt auch geschafft habe, mein Talent umzusetzen, auszuleben und da kommen tausend andere Sache dazu, über die man dann auch spricht, wie man arbeitet, was auch den Sport angeht. Das hat mein Leben unheimlich bereichert. Hat mich auch zu dem Menschen gemacht, der ich geworden bin über die Jahre. Da hat er einen großen Anteil an diesem Lächeln."
Magdalena Neuners Lächeln ist ein Ausdruck ihrer mentalen Stärke. An dieser Fähigkeit arbeiten inzwischen zahlreiche Spitzensportler. Der Stellenwert ist auch an der wachsenden Zahl der sportpsychologischen Experten abzulesen: Inzwischen zählt die Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in Deutschland knapp 400 Mitglieder. Innerhalb der letzten gut 20 Jahre hat sich die Zahl verdoppelt.
Doch auch schon viel früher haben sich Trainer und Verbände Gedanken über das gemacht, was im Kopf von Athleten vor sich geht. Und über Tricks, wie sie das beeinflussen können.
In der Halbzeit greift der Trainer in die Trickkiste
Die Handball-Weltmeisterschaft 1978. Sie ist der größte Triumph von Vlado Stenzel. Der Kroate ist zu dieser Zeit Trainer der deutschen Nationalmannschaft und schon damals wird er wegen seiner Erfolge und wohl auch wegen seiner unkonventionellen Methoden "Der Magier" genannt. Dabei sieht sich der Bundestrainer nicht als Mentaltrainer. Er ist kein geschulter Psychologe. Nur bei ganz ausgesuchten Spielen wendet Stenzel Tricks nach Gefühl an, auch zum WM-Finale in Kopenhagen.
Ein Beispiel ist sein Umgang mit einem Schlüsselspieler:
"Wunderlich steigt hoch… Waldtke linke Seite und Tooor! Das erste Tor von Dieter Waltke. Der 24-jährige Kreisläufer von Grün-Weiß Dankersen bringt die Mannschaft aus der Bundesrepublik in diesem WM-Finale in Front 14 zu 12 – 2 Tore Vorsprung gegen den Olympiasieger aus der UdSSR."
Dieter, genannt "Jimmy" Waltke, wird in der 39. Minute eingewechselt. Bis zum Finale macht er kein einziges Spiel. Aber Vlado Stenzel kennt den Effekt, den dieser Spieler auslöst: Waltke ist unter seinen Teamkollegen sehr beliebt, erzählt Stenzel heute, 40 Jahre später.
"Wenn er in die Mannschaft kommt, bringt er die Gruppe in eine höhere Klasse. Die freut sich, dass sie, wenn die gewinnen, für Waltke gewinnen. Das war der psychologische Trick dazu."
Diese "Joker-Variante" ist nicht die einzige Karte in Vlado Stenzels Ärmel: Der Trainer will nicht riskieren, dass sich Jimmy Waltke bei seiner einzigen Chance zu glänzen übernimmt. Deshalb holt er den Spieler zwei Tage vor dem Finale zu sich und verspricht ihm: Von der nächsten Saison an spielst du immer in der Stammformation.
"Oh, wie hat er sich gefreut! Ich wollte bei ihm abhaken, dass er nicht in diesem Spiel seine Lebenschance sieht. Dass er weiß, dass er nach dem Spiel spielt. Dann am zweiten Tag habe ich ihm gesagt: Jimmy, weißt du was? Kannst du auch schon morgen spielen? Sagt er: Ja, kann ich. Ja, sage ich. Super, dann spielst Du morgen. Das kann ich heute erzählen, die lachen sich alle tot."
Vlado Stenzel bestätigt 1978 mit der deutschen Handball-Nationalmannschaft seinen Ruf als sogenannter Magier: Wieder gewinnt seine Mannschaft, wenn es darauf ankommt. Das beweist der Kroate schon in den Jahren zuvor – als Vereins- und schließlich als Nationaltrainer im damaligen Jugoslawien. Er erinnert sich an ein Spiel aus dem Jahr 1971 – damals greift er für die jugoslawische Nationalmannschaft in der Halbzeit ganz tief in die Trickkiste. Beim Spiel gegen die UdSSR.
"Wenn ich die erste Halbzeit verloren habe, das ist mir ab und zu passiert. Einmal in Tiflis 9:1 für die UdSSR – ich war der einzige auf der Welt, der wusste, dass wir das gewinnen werden. Und ich wusste auch wie: Die Mannschaft musste bei mir fünf Minuten sitzen, kein Wort sagen. Damit sie sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen. Nach diesen fünf Minuten habe ich gefragt: Wie ist das Ergebnis? Und der Kapitän sagt 1 zu 9. Dann habe ich gesagt: Ok. Und das werden wir jetzt gewinnen. Auf einmal alle Köpfe hoch. Wie? Sage ich: Kommen Sie bitte langsam, wir gehen nah zu der russischen Kabine. Wir hören: Da wurde fast gefeiert. Trainer spricht kaum, die Spieler quatschen. Die sind alle so: das Spiel ist gewonnen 9 zu 1. Also, sie haben das Spiel gewonnen."
Zurück in der Kabine gibt Vlado Stenzel seinen Spielern ganz genaue Anweisungen. Er erklärt ihnen ausführlich, welche gut einstudierten Spielzüge jetzt kommen müssen, wie sie wen in der Abwehr zu decken haben. Eine plausible Taktik für die Spieler, die sie an eine Siegchance glauben lassen. Das ist immer die Basis seiner Tricks – alles andere findet er unglaubwürdig.
"Und jetzt hatten die etwas mit Hand und Fuß. Jetzt haben die gewusst: Ja, mit dem können wir gewinnen. Natürlich ist das jetzt Kopf gewesen. Mit wem soll ich sprechen als mit dem Kopf? Das war eine genaue, ein Strohhalm, mit dem sie eine Sicherheit bekommen haben: Das kann funktionieren."
...muss aber nicht. Das weiß der heute 81-Jährige: Ausgerechnet der experimentierfreudige Stenzel von damals ist in vielen Fällen skeptisch.
"Dass jemand etwas im Kopf ändert, kommt überhaupt nicht in Frage: Mit Tschiribumm-Tschiribao. Ich habe schon solche Psychologen einmal, zweimal gehört. Da habe ich nur mit dem Kopf geschüttelt. Dass die meint, dass nach diesem Blabla die Mannschaft irgendwie sie akzeptieren und dann besser spielt."
Doch mit dieser eher ablehnenden Haltung dürfte Vlado Stenzel heute zur Minderheit gehören. Der Durchbruch für die angewandte Sportpsychologie kommt in Deutschland mit Fußball-Bundestrainer Jürgen Klinsmann. Inspiriert von seinen Erfahrungen in den USA – wo der Kopf schon lange ein großes Thema bei Teams und Verbänden ist -, stellt er einen Mentaltrainer für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ein. 2004 war das, der Medienrummel riesig.
Seither ist die angewandte Sportpsychologie gefragt – das Vorurteil der "Hokus Pokus"-Disziplin ist inzwischen verblasst. Doch wie bei jedem Trend nutzen auch hier schwarze Schafe die Gunst der Stunde. Menschen, die sich als Motivator viel zutrauen, doch keine seriöse Ausbildung haben.
Dazu kommen kuriose Geschichten, die es von den Mannschaftskabinen in die Schlagzeilen schaffen: Spieler, die über Kohle oder Glasscherben laufen sollen, oder ein Trainer, der in der Kabine mit einem Adler auf dem Arm motivieren will. Für Trainer Vlado Stenzel ein Witz:
"Also bitte! Das könnte bei Idioten oder im Irrenhaus funktionieren aber nicht bei intelligenten Spielern!"
Auch der Sportpsychologe Lothar Linz erzählt von einigen zweifelhaften Methoden, die ihm in den letzten Jahren zu Ohren gekommen sind.
"Ich habe mal von Fußball gehört, wo dann ein Mentaltrainer mit Weihwasser kam und ihnen ein sozusagen heiliges Wasser gegeben hatte. Ob das jetzt so das Mittel der Wahl ist, weiß ich nicht zwingend. War auf jeden Fall nicht überragend angekommen."
Teams haben ihre ganz eigene Psychologie
Punktuell können Tricks zwar helfen – aber der Sportpsychologe Linz ist sich sicher: So etwas nutzt sich schnell ab und funktioniert nicht als langfristige Strategie.
"Der Schwerpunkt ist wirklich eine kontinuierliche Arbeit, egal ob mit dem einzelnen oder mit der Mannschaft, wo es darum geht, Prozesse über eine lange Zeit hinweg zu entwickeln. Es hilft mir ja auch nicht, wenn ich jetzt sage: Heute bringe ich die Mannschaft zum Sieg, das kann ich vielleicht durch einen guten Effekt mal kriegen, aber mit einem Sieg ist ja nichts getan. Ich muss es ja schaffen, einen Prozess zu erzielen. Und den kriege ich eben nicht mehr über den Effekt, sondern den kriege ich über eine solide Arbeit."
Die Arbeitsgemeinschaft Sportpsychologie Deutschland empfiehlt eine Expertenliste, mit der man sichergehen kann, dass man es nicht mit Hobbypsychologen zu tun bekommt: Sie wurde eigens vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft erstellt. Kriterien sind eine akademische Ausbildung, Aufbauseminare und mindestens 100 Stunden Praxiserfahrung in verschiedenen Feldern.
Auch Lothar Linz steht auf dieser Expertenliste. Linz ist heute einer der etabliertesten Sportpsychologen in Deutschland. Er betreut unter anderem das Duo Julius Brink und Jonas Reckermann, als sie 2012 in London die Goldmedaille im Beachvolleyball holen. Er ist Verbandspsychologe für den Deutschen Handballbund und arbeitet am Olympiastützpunkt Rheinland.
Die Klienten, die zu ihm kommen, haben ganz unterschiedliche Wünsche. Häufig geht es um Erfolgslosigkeit und das, was damit einhergeht: Schrumpfendes Selbstbewusstsein.
"Ein anderes wichtiges Thema ist ganz klar: Umgang mit Druck. Es ist ein Unterschied für einen Athleten, ob er bei einer Landesmeisterschaft startet oder bei Olympischen Spielen. Es gibt wenige Athleten, die unter Druck besser werden – die Mehrheit hat eben mehr Mühe, mit Druck umzugehen. Und das ist eben etwas ganz klassisches, wo Athleten dann kommen und sich Hilfe holen."
In vielen Fällen geht es um die punktuelle Beratung im Einzelgespräch. Nicht bei allen Sportlern kann Lothar Linz mit zu Wettkämpfen fahren – das liegt auch an den Kosten. Viele Sportler müssen ihr Coaching für den Kopf selbst finanzieren und selbst wenn die Verbände bezahlen: Das Geld ist oft knapp. Anders ist es bei Mannschaften: Mit ihnen kann Lothar Linz gelegentlich zum Wettkampf fahren. Und: Teams haben ihre ganz eigene Psychologie.
"Die legendärste Geschichte überhaupt ist für mich Fußball: Uerdingen gegen Dresden."
Die Dynamik, die sich in einer Mannschaft abspielen kann, zeigt das sogenannte Wunder von der Grotenburg. Am 19. März 1986 stehen sich Bayer Uerdingen und Dynamo Dresden im Viertelfinale des Europapokals der Pokalsieger gegenüber. Im Hinspiel unterliegt Uerdingen mit 0:2. Im Rückspiel liegt das Team zur Halbzeit zuhause mit 1:3 zurück, braucht fünf Tore zum Weiterkommen. Uerdingens Abwehrspieler Wolfgang Funkel beschreibt Jahrzehnte später die Resignation in der Mannschaft.
"Wir saßen natürlich in der Kabine mit hängenden Köpfen da und waren uns bewusst: Das können wir nicht mehr drehen."
Doch genau das schafft das Team, irgendwann in der zweiten Halbzeit legt sich in der Mannschaft ein Schalter um. Durch sechs Treffer in der zweiten Spielhälfte gelingt es dem Gastgeber, das Spiel für sich zu entscheiden. Am Ende steht es 7:3 für Bayer Uerdingen. Die Mannschaft zieht ins Halbfinale ein.
"Es gibt das, was ich immer den 'Ansteckungseffekt' in der Mannschaft nenne, im Positiven wie im Negativen. Man kennt das zum Beispiel vom Fußball, dass es manchmal Spiele gibt, wo dann plötzlich gar nichts geht. Das sagen auch Spieler: Das ist wie ein Virus. Alle sind davon befallen. Und das gibt es natürlich auch im Guten. Dadurch, dass ich mit einer Mannschaft arbeite und mit ihnen gemeinsam Dinge erarbeite, jeder auch ein Stück mitgenommen wird. Das ist der allerwichtigste Unterschied: Im Einzelnen kommt das Problem des Einzelnen ganz zum Tragen, dafür kann ich auch ganz auf ihn eingehen – das kann ich in der Mannschaft nicht. Aber dafür werden eben manche Dinge durch die Kraft der Mannschaft überdeckt."
Einzelsportler sind mit dem Druck und ihren Gefühlen allein. Umso wichtiger findet Lothar Linz, dass sich die Sportler auf anstehende Situationen im Kopf vorbereiten. Dazu gibt es bestimmte Techniken, die er seinen Athleten mit auf den Weg gibt.
Die Sportler sollen sich konkrete Situationen vorstellen: Was kommt auf dem Platz, auf der Piste oder in der Halle konkret auf mich zu? Die Umgebung ausblenden, sich auf sich zu konzentrieren, das ist eine der größten Herausforderungen in der Sportwelt. Wenn die Lebensziele zum Greifen nah sind, blockiert der Druck oft plötzlich alles.
"Was ich natürlich auch versuche: Den Athleten dabei zu helfen, dass sie Druck nicht nur negativ wahrnehmen. Weil Druck ist an sich erst einmal etwas Neutrales. Negativ wird’s erst, wenn ich ihn für mich als Negativ bewerte. Ich möchte als Athlet ja Druck haben. Wenn ich das klar mache. Wenn ich jemandem sage: Hör mal, Du willst doch ins olympische Finale. Das ist doch das, wofür du seit vier Jahren arbeitest, um das jetzt zu erleben. Und jetzt kannst Du dir überlegen, ob Du sagst: Oh Gott, oh Gott, wie schrecklich oder ob Du sagst: Hey, wie geil, dass ich das jetzt erleben darf! Das ist doch wunderbar. Und dann fängt es an, sich gut anzufühlen."
Die Angst vor dem entscheidenden Elfmeter
Der Fußballspieler geht dann im besten Falle mit erhobenem Haupt statt mit flauem Magen in das lang ersehnte Finale. Doch was, wenn er am Ende des Spiels den entscheidenden Elfmeter schießen muss?
Bastian Schweinsteiger nach seinem verschossenen Elfmeter beim Champions League-Finale 2012 gegen den FC Chelsea
Bastian Schweinsteiger nach seinem verschossenen Elfmeter beim Champions League-Finale 2012 gegen den FC Chelsea© dpa / picture alliance / Thomas Eisenhuth
Die vermutlich größte aller Drucksituationen: Elfmeterschießen, zum Beispiel im Finale der Fußball Champions League 2012. Der FC Bayern München spielt gegen den FC Chelsea. Die Erwartungen bei den Bayern sind riesig. Nach elf Jahren können die Münchner vor heimischem Publikum den Champions League-Pokal holen. Der Druck auf Bastian Schweinsteigers Schultern ist enorm.
"Das Schlimmste ist: Man geht von der Mittellinie bis zum Strafraum. Und diese 40 Meter sind die längsten Ihres Lebens."
Schweinsteiger schießt an den Pfosten, am Ende gewinnt Chelsea. Was ist der psychologische Knackpunkt in einer solchen Situation?
"Sie haben plötzlich so viel Zeit, sich Gedanken zu machen. Und wenn dann ein Athlet nicht weiß, welche Gedanken ihm helfen, welche er also bewusst versucht zu erzeugen und welche er auch unterbinden muss - auch dafür gibt es Techniken. Zum Beispiel der sogenannte Gedankenstopp. Wo man ganz aktiv versucht, störende Gedanken zu unterbinden. Indem man sich ein Stoppzeichen vorstellt und vorher schon genau weiß: Wenn ich ein Stoppzeichen benutze, welche Gedanken nehme ich danach in den Griff, damit nicht die anderen Gedanken da hinein kommen."
Tennisspielerin Andrea Petkovic findet sich oft in einer solchen Situation wieder. Wenn ein ganzes Stadion die Augen auf zwei Spielerinnen gerichtet hat. Mal angenommen, im entscheidenden zweiten Satz wehrt die bisher unterlegene Spielerin den Matchball ab und beginnt das Spiel zu drehen. Was geht in diesem Moment im Kopf einer Sportlerin vor?
"Ich glaube, das ist beiderseits: zum einen diejenige, die den Matchball abwehrt, kommt aus dieser Situation heraus mit: Ich war eigentlich schon weg vom Fenster. Ich bin auf einmal wieder im Spiel. Ich habe nichts zu verlieren. Die ganze Zukunft steht vor einem und alles, was dahinter war, ist abgeschlossen. Und das ist ein sehr, sehr positives Zeichen. Wenn Du das Gefühl hast: Was hinter mir war ist weg, ich bin jetzt wieder da und von jetzt an geht’s los. Und gleichzeitig für die andere: Die fängt an, in der Vergangenheit zu leben. Weil sie denkt: Oh nein, ich hatte den Matchball. Hätte ich den Matchball genutzt, wäre ich schon längst in der Umkleide."
Für die impulsive Tennisspielerin Andrea Petkovic ist das mental größte Ziel: Sie will ihre Gefühle in den Griff bekommen.
Das gelingt ihr auch nach jahrelanger Übung nicht immer, doch auch dafür hat sie inzwischen ihre Tricks. Ein Beispiel dafür sind die French Open 2015. In der zweiten Runde in Paris bringt erst ein Wutausbruch die Wende.
"Ich habe mir alles so schlechtgeredet und in dem Moment, als ich zu mir sagte: Andrea, halt jetzt mal die Fresse, ist ja unerträglich mit dir, dann war das, als hätte sich ein Geist von mir gelöst, als hätte ich mich selbst von außen betrachtet, und ich war mir selbst peinlich in dem Moment und habe mich wie von außen ermahnt: Jetzt reicht's. Das kann doch nicht wahr sein. Was ist mit dir los? Und in dem Moment war's wieder gut."
Manchmal wird der Kopf überschätzt
Andrea Petkovic dreht das Spiel. Bei Turnieren hat sie per Telefon engen Kontakt zu ihrer Mentaltrainerin. Mit ihr bespricht sie Übungen und Techniken.
"Ich meditiere jeden Tag und ich habe verschiedene Methoden, die ich benutze. Manchmal versuche ich, an gar nichts zu denken. Manchmal versuche ich bewusst Gedanken zu denken, die positiv sind und die mich stark machen. Manchmal versuche ich nur komplett zu entspannen."
Wie groß ist sie wirklich, die Macht des Kopfes im Sport? Ex-Handball-Nationaltrainer Vlado Stenzel ist genervt vom aktuellen Hype. Er findet: Der Kopf wird überhöht, das Körperliche gerät zu sehr in den Hintergrund.
"Früher, als ich nach Deutschland kam '73, da kamen die Hausfrauen zu mir und haben gesagt: Weißt du was, die Mannschaft hat keine Kondition, deswegen haben die auch keine Konzentration. Das haben die Hausfrauen in Deutschland damals gewusst. Jetzt wissen das die Fachleute nicht mehr."
Die Zeiten haben sich geändert. Doch Sportpsychologe Lothar Linz hat ein gewisses Verständnis für Vlado Stenzels Kritik. Auch er erlebt heute Fälle, wo der Kopf überschätzt wird.
"Es gibt Leute, die sagen: Das entscheidet alles. Wo ich dann sage: Nein, das entscheidet erst, wenn die anderen Komponenten da sind. Ich kann Usain Bolt nur schlagen, wenn meine Beine auch schnell sind. Und dann muss eben auch noch der Kopf schnell sein. Das ist meine Sichtweise. Man sollte das nie in Wettbewerb setzten. Viel besser ist dieses Bild vom Mosaik. Sich klar zu machen: Wenn ich erfolgreich sein will, egal in welcher Sportart, dann braucht es eine ganze Reihe von Mosaiksteinen. Und die mentale Ausbildung von Athleten ist eben einer dieser Bausteine, die in dieses Mosaik reinpassen müssen. Und ob der Stein ein bisschen größer oder kleiner ist, ist gar nicht wichtig. Es ist vielmehr die Frage: Will ich wirklich in diesem modernen Sport auf diesen Stein verzichten? Und da sage ich: Das sollten wir nicht mehr tun."
Tennisspielerin Andrea Petkovic macht seit acht Jahren Mentaltraining. Für die 27-jährige Profisportlerin ist dieser Mosaikstein im aktuellen Sportbetrieb unverzichtbar. Ein guter Sportler ist für sie ein mental starker Sportler.
"Ich habe mit ganz vielen ganz tollen Spielern in der Jugend gespielt, die unheimliches Talent hatten, und viele von denen sind heute nicht in der Weltspitze, obwohl die eindeutig mehr Talent hatten als ich, besser waren als ich oder andere. Und ich glaube auch, wenn man eine Angie Kerber, Jule Görges, Sabine Lisicki oder mich spielen sieht, dann würde man nicht unbedingt sagen: Die haben eine so viel bessere Technik als andere Mädels, die damals mit denen gespielt haben. Man kann das manchmal nicht so genau an der Art zu spielen ausmachen, sondern heutzutage ist es wirklich der Kopf. Vor allem natürlich im Tennis, weil so viel davon abhängt. Heutzutage wirklich in jedem Sport. Vor allem in den Einzelsportarten ist es der Kopf, der dann vielleicht den letzten Schub gibt."
Mehr zum Thema