Der Zölibat und die Wirklichkeit

Als der Priester bei Mama einzog

Die Schauspieler Lauren Hutton und Robert Forster in "Die Geliebte des Priesters", Szene aus dem US-Film von Daniel Haller aus dem Jahr 1970
Die Schauspieler Lauren Hutton und Robert Forster in "Die Geliebte des Priesters", Szene aus dem US-Film von Daniel Haller aus dem Jahr 1970 © imago/United Archives
Christina Talberg im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 23.04.2018
Die Mutter hat einen neuen Freund. Der zieht zu Hause ein. Doch selbst die Tochter darf über die sexuelle Beziehung nichts wissen. So erging es der Autorin Christina Talberg. Als Kind stürzte sie das in große Verwirrung.
Liane von Billerbeck: Leben ohne Frau oder Mann, als Lebensmensch ohne leibliche Kinder – was bedeutet der Zölibat für das Leben der Betroffenen? Das ist die Frage, die heute in einem Dokumentarfilm gestellt wird, der in der ARD läuft – "Kirche ohne Priester" heißt der – und darin geht es um die Nachwuchssorgen der katholischen Kirche und auch um die Frage, ob deswegen in absehbarer Zeit der Zölibat vielleicht abgeschafft wird. Darüber wollen wir jetzt reden mit Christina Talberg – so lautet das Pseudonym einer Journalistin, die in Frankreich lebt –, und sie hat den Roman "Nur ein Wort" geschrieben, in dem sie die Geschichte ihrer Mutter verarbeitet hat, die nämlich seit 40 Jahren mit einem Priester zusammenlebt. Als Christina drei Jahre alt war, starb ihr Vater, und einige Zeit später erschien der Priester immer öfter bei ihrer Mutter zu Hause. Frau Talberg, schönen guten Morgen!
Christina Talberg: Guten Morgen!
Billerbeck: Ihr Liebesroman basiert ja auf Ihrer eigenen Geschichte. Wie haben Sie denn als Kind die Beziehung Ihrer Mutter zu einem Priester erlebt?
Talberg: Also der tauchte wie gesagt bei uns auf, als ich vielleicht so vier oder fünf Jahre alt war, und war eben da, er war Teil meines Alltags. Ich habe dann ziemlich schnell mir gedacht, dass zwischen den beiden mehr ist, dass er eben nicht nur einfach ein Familienfreund ist. Ich habe dann auch mal gesehen, wie die beiden sich abends in der Küche umarmt haben, und ich habe dann zu meiner Mutter gesagt: Sag mal, was war denn da, ihr habt euch doch umarmt? Meine Mutter hat dann gesagt: Wir haben uns nicht umarmt, wir haben zusammen Geschirr gespült. Für so ein Kind ist das kompliziert, denn die eigene Mutter lügt ja nicht – also tickt man selber nicht richtig. Man sieht Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht existieren, und vertraut irgendwann seiner Wahrnehmung nicht mehr, also das ist dann schon kompliziert.

"Ich hatte so ein Doppelleben praktisch"

Billerbeck: Wie war das für Sie, wenn Sie mit niemandem darüber reden durften, was sie da gesehen haben?
Talberg: Man gewöhnt sich, glaube ich, an alles. Für so ein Kind ist einfach die Situation normal, in der es lebt. Ich hatte dann meine Freundinnen und habe mir auch Freundinnen ausgesucht, die eine ganz normale Familie hatten, und war dann oft bei denen – ich hatte so ein Doppelleben praktisch. Einerseits die Sachen, die ich nicht immer verstanden habe, und über die man mich auch nicht aufgeklärt hat – meine Mutter hat mir auch nichts über ihre Gefühle natürlich gesagt, das ist ja meistens so. Andererseits bin ich in der Schule aufgeblüht und hatte meine Freundinnen und so.
Billerbeck: Wann haben Sie denn gemerkt, dass Sie, beziehungsweise Ihre Mutter, gar nicht alleine sind, sondern dass es viel mehr solcher Partnerschaften mit Priestern gibt?
Talberg: Also das habe ich eigentlich erst sehr spät gemerkt. Ich wollte erst mal weg von dem Ganzen, ich bin direkt – also einen Tag nach dem Abi – nach Frankreich als Au-pair-Mädchen und bin dann dort geblieben. Ich habe es dann genossen, einfach mit Leuten über alles reden zu können, und dass da eben nicht die Gefahr war, dass die Nachbarn von meiner Mutter dann was davon mitkriegen. Ich habe dann später, eben auch als Journalistin, mich mit dem Thema befasst und habe auch Reportagen gemacht mit Vereinigungen von Ex-Priestern, die dann zu ihrer Liebe stehen und die Frauen geheiratet haben, und habe Bücher darüber gelesen, und so weiter. Ich habe eben nach und nach erfahren, dass schätzungsweise die Hälfte der Priester heimliche Beziehungen hat, heimliche Liebesbeziehungen…

Die berühmte Haushälterin gibt es immer noch

Billerbeck: Die berühmte Haushälterin…
Talberg: Ja genau, also das war früher auch schon so. Da nannte man's die Haushälterin – übrigens sagt man das heute immer noch, also zum Beispiel meine Mutter: Die lebt heute mit ihrem Freund zusammen, und die Familie und die engen Freunde wissen das, und die Nachbarn stellen sich, glaube ich, keine Fragen. Zur Not sagt er dann eben von meiner Mutter, sie sei seine Haushälterin – das würde ich mir als Frau nicht wünschen, dass mein Mann von mir sagt, ich sei die Haushälterin.
Billerbeck: Dass Sie mit ihren Erfahrungen für die Abschaffung des Zölibats sind, das kann man sich irgendwie vorstellen. Aber würde das auch nach Ihrer Einschätzung tatsächlich auch das Nachwuchsproblem der Kirche lösen, dass eben sich dann mehr Männer, mehr Menschen für das Priesteramt entscheiden würden?
Talberg: Ich glaube, das ist eine Seite des Problems. Ich denke schon, dass einige zögern, weil eben diese Zölibats-Frage da ist. Also wenn die wüssten, ich kann ganz normal mein Liebesleben leben, meine Sexualität leben, dann würden sich bestimmt mehr dafür entscheiden Priester zu sein. Wie ich das so einschätze, ist es eben heute so, dass die jungen Priester sehr konservativ sind, also das sind dann gerade Leute, die sagen, ja das soll alles bleiben wie es ist, und das ist genau richtig so. Natürlich, vielleicht passiert es dann irgendwann während ihrer Laufbahn, dass sie sich dann eben doch verlieben, und dann nicht mehr ganz so hundertprozentig sind. Ich denke mal, einen Teil der Frage würde es lösen. Ein anderer Teil ist natürlich, dass die Kirche zu konservativ ist – trotz des lebendigen Papstes Franziskus –, und dass sie darum eben auch an Mitgliedern verliert. Also die Kirche ist heutzutage natürlich weit weniger attraktiv, als sie noch vor 50 oder 100 Jahren war.

"Als Priester muss man zwangsläufig konservativ sein"

Billerbeck: Wie erklären Sie es sich eigentlich, dass junge Priester jetzt so besonders konservativ sind?
Talberg: Das ist eben so, dass die ganze Kirche als solches nicht mit der Zeit mithält, nicht mehr progressiv ist. Wenn man zur Kirche, also in dieser Kirche aufgehen will als Priester, dann muss man zwangsläufig so konservativ sein, so ist meine Analyse.
Billerbeck: Für Oktober 2019 hat der von Ihnen ja schon erwähnte Papst Franziskus in Rom eine Synode mit den Bischöfen der Diözesen am Amazonas einberufen – dort ist der Priestermangel besonders extrem. Die Bischöfe von dort, so heißt es, die könnten anstoßen, dass dieses verpflichtende Zölibat für Priester aufgehoben wird – zunächst natürlich erst mal in ihrer Region. Was wäre das für eine Entscheidung?
Talberg: Ich glaube, das ist der erste kleine Schritt. Dadurch stemmt praktisch der Papst einen Fuß in die Tür, das ist die erste Ausnahme – und eine Ausnahme kommt dann wahrscheinlich zur anderen, und irgendwann ist dann die ursprüngliche Regel selber die Ausnahme. Also ich lese das immer wieder bei Papstkennern und Vatikan-Analytikern, dass dieser Papst immer sehr strategisch vorgeht. Der stellt sich nicht hin und sagt, ich entscheide jetzt, dass diese Regel außer Kraft gesetzt wird, sondern der tut irgendwie so, als würden die Veränderungen von unten kommen, und als würde die Kirche von unten das anstoßen, und dann wird es halt irgendwann durchgesetzt – als sei er nicht selber der, der an diesen Fäden zieht. Ich denke, wenn mal diese Ausnahme durchgesetzt wird, also dass diese "viri probati" – diese bewährten, älteren, verheirateten Männer – Priester werden können, dass dann auch der Weg nicht mehr weit ist, bis dann irgendwann diese Zölibats-Regel außer Kraft gesetzt wird.
Billerbeck: Christina Talberg war das – über ihre Geschichte haben wir geredet und was möglicherweise mit dem Zölibat geschieht. Ein Fall, der klar macht, wie dramatisch die Folgen des Zölibats für die Betroffenen sein können. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Talberg!
Talberg: Vielen Dank an Sie!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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