Der Zeitmesser

Von Johannes Halder · 23.08.2012
Wo gibt es das, dass Leute Schlange stehen, um zu sehen, wie die Zeit vergeht? Bei der Videoarbeit "The Clock", für die der amerikanische Klang- und Videokünstler Christian Marclay 2011 bei der Biennale den Goldenen Löwen bekam, ist das der Fall. Im Kunsthaus Zürich ist sie jetzt zu sehen.
"Noch 15 Minuten, Mr. Bond", verkündet eine kühle Dame dem Geheimagenten ihrer Majestät, und der von einer Foltermaschine durchgerüttelte Sean Connery blickt nicht weniger cool auf eine Uhr an der Wand: Es ist zehn vor eins.

Zehn vor eins ist es in dem Moment nicht nur im Film, sondern auch draußen in der wirklichen Welt, und genau das ist der Reiz des 24 Stunden langen Streifens: Der Film ist eine Uhr, die stets die richtige Zeit anzeigt.

Es sind Momente wie diese, die sich, Minute um Minute, Szene für Szene, 24 Stunden lang, Tag und Nacht, aneinanderreihen, 1440 Clips von je einer Minute Länge, durch Musik und sich teils überlappende Dialoge geschickt verbunden zu einem einzigen Fluss der Zeit, und perfekt synchronisiert mit der tatsächlichen Tageszeit.

Zwei Jahre lang haben Christian Marclay und seine Helfer die Filmgeschichte durchforscht für diese kinematografische Fleißarbeit - Western und Musicals, Krimis und Kriegsfilme, ergreifende Melodramen und billige Komödien, und in jeder der ausgewählten Szenen gibt es jemanden, der zu irgendeinem Zeitpunkt auf die Uhr schaut, einen Termin vereinbart oder eine Uhrzeit nennt.

Wartende Liebhaber, genervte Reisende, finstere Killer - mal sind nüchterne Digitalchronometer oder mächtige Turmuhren im Bild, mal altmodische Wecker, elegante Taschenuhren oder die goldene Rolex am Handgelenk eines schmierigen Gangsters. Die Zeit ist eine finstere Macht, die sich alles unterwirft.

Es ist nicht nur seine ungewöhnliche Länge, die diesen Film so einzigartig und erstaunlich fesselnd macht. Obwohl keine Szene mit der anderen zu tun hat, herrscht beim Betrachten eine kollektive Spannung, ein an die Nerven gehendes Gefühl der Unruhe und Beklemmung. Anders als bei einem normalen Film, bei dem man meist die Zeit vergisst, ist sie hier stets präsent, sagt Christian Marclay:

"Man verbringt die Zeit und wird dabei unterhalten. Aber gleichzeitig ist man sich ständig der Zeit bewusst, die dabei vergeht. Diese Spannung begleitet uns durch den ganzen Film. Die Beklemmung angesichts der Zeit trifft jeden. In diesem Werk geht es sehr um Vergänglichkeit, um Sterblichkeit. Ich habe den Film mal ein gigantisches Memento Mori genannt, denn die Bezüge zum Leben und Tod, zum Vergehen der Zeit sind sehr stark."

Als Klangkünstler und Komponist ist Christian Marclay bekannt geworden. 1995 schuf er ein Werk, das man als eine Art Vorläufer zu "The Clock" betrachten kann. In fast jedem Film, sagt der gebürtige Kalifornier, gibt es eine Telefonszene. Marclay fügte die Ausschnitte zu einem ebenso absurden wie abstrakten Gespräch. "Telephones" heißt das Stück.

In "The Clock" ist alles anders. Der Film kann praktisch endlos laufen und macht als Zeitmesser immer einen Sinn. Er macht die Zeit erfahrbar als physikalisches Maß und metaphysische Größe und ist, ganz nebenbei, auch ein Ratespiel für Cineasten.

Der Film kann streckenweise sogar sinnlich, ja fast sexy sein. Besonders in den Morgenstunden, wenn Liebespaare im Bett erwachen, sich umarmen und sich mit einem Blick auf die Uhr bewusst machen, dass sie sich einem verbotenen Vergnügen hingeben - verboten von der Uhr.

Es gibt eine zweideutige Szene aus "Easy Rider", in der Peter Fonda kurz auf seine Uhr schaut: zwanzig vor zwölf. Dann wirft er sie weg. Es ist kurz so, als sei die Zeit stehen geblieben. Aber dann ist klar: Uhren können stehen bleiben. Die Zeit läuft unerbittlich weiter.

Weitere Informationen:
"The Clock" kann während der normalen Öffnungszeiten im Kunsthaus Zürich bis zum 2. September 2012 angeschaut werden.