Der zärtliche Kehlenschnitt

Von Stefan Keim |
Nach der Uraufführung der "Woyzeck"-Opera durch Robert Wilson vor acht Jahren in Kopenhagen war das Stück nicht für neue Inszenierungen frei gegeben. Jetzt bringt Regisseur Joan Anton Rechi am Theater Oberhausen die Mischform aus Schauspiel und Musiktheater neu auf die Bühne. Georg Büchners todtrauriges Theaterfragment und die Verlorenheitsmusik von Tom Waits passen großartig zusammen.
"All the world is green" singen Woyzeck und Marie. Sie nehmen sich in die Arme. Jetzt könnte alles anders werden, hier muss kein Mord passieren. Die beiden zerbeulten Seelen, denen Tom Waits einen zärtlichen Song in die Kehlen legt, könnten doch einfach miteinander fort gehen.

Aber der Text erzählt von der Vergeblichkeit: "Let's pretend we can bring back the old days". Sie können halt nur so tun, als wären die alten Zeiten nicht längst vorbei. Sie sind es, und Woyzeck schlitzt Maries Kehle auf, während er sie fest im Arm hält. Zärtlich lässt er den zuckenden Körper zu Boden sinken, während die Musik weiter läuft. "The band is playing our song".

Büchners todtrauriges Theaterfragment und die Verlorenheitsmusik von Tom Waits passen großartig zusammen. Nach der Uraufführung durch Robert Wilson vor acht Jahren in Kopenhagen war das Stück nicht für neue Inszenierungen frei gegeben. Das Theater Oberhausen gab sich nicht damit zufrieden. Der neue Intendant Peter Carp will während seiner ersten Spielzeit Mischformen aus Schauspiel und Musiktheater ausprobieren.

Die deutsche Erstaufführung des Waits-"Woyzeck" ist inhaltlich wie vom Publicity-Effekt her eine perfekte Eröffnung. Die Dramaturgen haben sich bis zu Tom Waits selbst durchgearbeitet und erhielten nicht nur die Genehmigung. Der Großmeister des gutturalen Gesangs komponierte einige Songs fertig, die er für die Uraufführung noch nicht notiert hatte. In Oberhausen arrangierte der Theatermusiker Otto Beatus die Partitur für eine sechsköpfige Band und pointierte das Raue, Erdige, Zersplitterte dieser Musik ebenso wie die am Herzen zerrende Schönheit der Balladen.

Eine herunter gekommene Spelunke hat Bühnenbildner Alfons Flores auf die Drehbühne gestellt. Die Band spielt auf dem Dach, der Hauptmann lässt sich in diesem Stundenhotel rasieren, Huren laufen lasziv durch die Räume. Neonleuchten tauchen die Szene in verschiedene, künstlichkalte Farben. Die Kaschemme leuchtet in der Dunkelheit, zieht die Menschen an als seien sie Fliegen, die keine Ahnung haben, dass sie in diesem Licht verbrennen können.

Jürgen Sarkiss ist ein groß gewachsener, kräftiger Woyzeck, kein Leidensmann, der um Mitleid buhlt. Dieser Kerl ist so kaputt, dass er sein Baby im Kinderwagen mit der Bettdecke ersticken will, weil es zu lange schreit. Trotzdem berühren seine verschütteten Gefühle, wenn er von seinem "Coney Island Girl" singt.

Zu den Emotionen muss sich der Zuschauer in dieser kalten, harten Welt erst durcharbeiten. Regisseur Joan Anton Rechi, der wie das gesamte Regieteam oft mit Calixto Bieito arbeitet, zeichnet die Figuren mit sozialer Genauigkeit, ohne in die Nähe des Naturalismus zu geraten. Der Doktor (Henry Meyer) experimentiert an Woyzeck herum, weil er Blut spuckt, das Ende naht und in ihm die irrationale Hoffnung sitzt, er könnte das Geheimnis des ewigen Lebens finden.

Nora Buzalka zeigt Marie als frustrierte junge Mutter, die sich selbst hasst, weil sie Woyzeck mit dem gut aussehenden Tambourmajor betrügt. Rechis Inszenierung nähert sich in den Spielszenen wieder Büchners Text, während Robert Wilson in der Uraufführung freier mit den Vorgaben umging.

Rechis Konzept erinnert an Calixto Bieitos Inszenierung von Brechts "Dreigroschenoper", ist deshalb aber nicht weniger schlüssig. Auf der Bühne mischen sich altes und neues Oberhausener Ensemble als hätten sie schon immer zusammen gespielt, alle Schauspieler singen ausgezeichnet.

Die Bezeichung "Opera" ist nicht übertrieben, denn Tom Waits behandelt seine Songs wie Arien, vertieft die Gefühle, während die Handlung still steht. Wenn die Musik verklingt, lässt Regisseur Rechi Schweigen und Leere zu. Man ahnt die Hohlheit der Welt, die Woyzeck empfindet. Ein starker Start in Oberhausen.