Der wilde Schweizer

Von Christian Gampert · 13.10.2005
Johann Heinrich Füssli (1741 - 1825) dürfte zu den belesensten Malern der Kunstgeschichte gehören. Seine Bilder heißen "Romeo an der Bahre Julias" oder "Die drei Hexen erscheinen vor Macbeth und Banquo". Heute sind seine Bilder immer wieder in Themen-Ausstellungen zu sehen, aber wirkliche Füssli-Retrospektiven sind selten. Das Züricher Kunsthaus will den großen Sohn der Stadt nun heimholen und widmet ihm eine Ausstellung.
Er war ein Stürmer und Dränger. Schon als junger Mann hat Johann Heinrich Füssli, der streng religiös erzogen wurde, gegen einen korrupten Landvogt opponiert – der Vogt musste gehen, allerdings musste auch Füssli mit seinen Freunden - Felix Hess und dem späteren Physiognomen Johann Caspar Lavater - ins Ausland, aus dem er nur zu einer kurzen Stippvisite noch einmal nach Zürich zurückkehrte, 1779, auf dem Weg von Rom nach London.

Ein Kosmopolit also, den sie in London den "wilden Schweizer" nannten. Wild und leidenschaftlich ist fast alles an seiner Malerei, es mutet heute aber auch dramatisch aufgebauscht und sonderbar pathetisch an, theatralisch eben, und doch sind diese ungeheuer dunklen Großformate, in denen bleiche Menschen von Alpträumen heimgesucht werden, ein Riesenschritt auf dem Weg in die Moderne: Hier war erstmals ein von der Bühne inspirierter Psychologe am Werk, den die Gefühle auf einem Gesicht interessierten, ein Literaturmaler, der Szenen von Dante, Shakespeare oder aus dem Nibelungenlied so düster ausstaffierte, dass man heute noch von "gothic horror" spricht. Ein Exzentriker, der auch beißend ironisch Feen und Elfen im Kleinformat durch den "Sommernachtstraum" schweben ließ und nebenbei, für sein Privatvergnügen, saftig Pornographisches zeichnete.

In Zürich sind diese Bilder jetzt sorgsam nach Themen inszeniert, beginnend mit dem Rütli-Schwur und frühen, handwerklich schon virtuosen Zeichnungen, die Füsslis Schulung an deutschen und niederländischen Meistern verraten. In den obligatorischen Jahren in Rom, zwischen 1770 und 1778, fand er Gefallen an den klassischen Körpern der Antike und bewunderte Michelangelo – eine gute Vorbereitung für das, was er in London dann an kraftvoller Dramatik vorhatte. Die Kuratorin Franziska Lentzsch sieht seinen Londoner Lebenswandel allerdings als eine künstlerische Strategie an:

Lentzsch: "Er ist aus dem Rahmen gefallen in der gängigen Kunst, und er war auffällig auch durch sein Auftreten in gewissen Kreisen. Er war dominierend in jeder Konversation unter Intellektuellen, er kleidete sich sehr extravagant, quasi ein Modenarr, er war zum Teil taktlos, er war gleichzeitig aber auch ein Mann von Welt – also er war eine irritierende Erscheinung. "

Also: der Mann war schauspielerisch begabt, und Klappern gehört zum Handwerk.

Lentzsch: "Ich habe den Eindruck, dass dahinter auch sehr viel Kalkül steckte, dass er das bis zu einem gewissen Grad geplant hat, so aufzufallen, um in die etablierten Kunstkreise Einlass zu finden."

Wahrscheinlich kennt jeder von uns mehr Füssli-Bilder, als ihm bewusst ist: der Sprung Wilhelm Tells aus stürmender See vom Boot aus an Land, an den Felsen, ein Bild, das in jeder besseren Schiller-Ausgabe zu finden ist – es ist von Füssli. Es wird allerdings immer als Kupferstich gezeigt, das Original ist verschollen. Titania und der Esel, umschwirrt von Elfen (und Teufeln), Falstaff im Wäschekorb, ein Muss für jede illustrierte Shakespeare-Ausgabe – alles von Füssli. "Der Nachtmahr" mit dem auf einer lasziv ausgestreckten Schönen sitzenden Incubus und einem horrorartig beleuchteten Pferdekopf, der durch die Vorhänge lugt, eine Inkunabel der psychologischen Literatur – es ist Füssli, der das Thema in mehreren Varianten gemalt hat.

Die Bilder stammen aus den 1780er, 1790er Jahren, aus dem Zeitalter der Aufklärung und der französischen Revolution also. Trotzdem: die Inszenierung dunkler Triebe und hysterischer Ängste machte den Maler beim großen Publikum nicht gerade beliebt, und wenn man heute vor diesen Bildern steht, weiß man auch warum. Füssli zeigte die Nachtseite der menschlichen Existenz, auch in den Historienbildern, im Vorgriff auf die Psychoanalyse – und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem seine Kollegen gepflegte Portraits und lieblich-spätbarocke oder romantische Landschaften malten – und diese Kollegen hießen immerhin Gainsborough, Constable oder auch Fragonard.

So kam es, dass Johann Heinrich Füssli im 19. Jahrhundert komplett in Vergessenheit geriet, trotz Baudelaire und Edgar Allen Poe. Das hat ganz merkantile Gründe:

Lentzsch: "Füssli hat Zeit seines Lebens seine Bilder sehr schlecht verkauft. Er war wohl sehr berühmt und bekannt und auf eine gewisse Art auch erfolgreich, aber seine Bilder hat er nicht verkauft. Die waren nicht Objekte für Sammler, sie waren interessant, weil sie neu und spektakulär waren. Sein Erfolg hat ihm schließlich eine akademische Karriere eingebracht, er war Professor, später sogar Verwalter der Royal Academy, also einer der angesehensten Institutionen in England überhaupt. Aber sein Erfolg beruht eigentlich auf einem akademischen Status, nicht auf dem Status als Maler an sich. Er hat zunächst mehr auf einer Meta-Ebene gewirkt."

Füssli wurde erst von den Symbolisten und vor allem von den Surrealisten wiederentdeckt, denen die Horrorgestalten seiner Alpträume und die burlesken Figuren seiner erotischen Kabinette offenbar bekannt vorkamen und die hier einen Geistesverwandten sahen. Auch das Kunsthaus Zürich bemerkte Mitte des 20. Jahrhunderts, dass der Schweiz hier einer ihrer originellsten Künstler abhanden gekommen war, und begann Füssli zu kaufen. Heute hat Zürich die größte Füssli-Sammlung weltweit, und für die Ausstellung haben namhafte Museen ihre besten Stücke hergegeben. Seit 35 Jahren gab es keine Füssli-Retrospektive – diese hier sollte man ansehen.

Service: Die Ausstellung ist vom 14. Oktober 2005 bis 8. Januar 2006 in der Kunsthalle Zürich zu sehen.