Der Westen wird verostet

Von Joachim Walther · 20.03.2012
Nachdem mit dem ostdeutschen Übergewicht an der Spitze des Staatswesens die Angleichung Ost in eine eklatante Benachteiligung West umgeschlagen ist, stellt sich die seit 20 Jahren anklagend gestellte Frage nach der Gleichheit aller Deutschen völlig neu.
Wäre ich ein gebürtiger Westdeutscher oder Westberliner, was ich nicht bin und auch nicht werden kann, selbst wenn ich es wünschte, was ich nicht tue, so hielte ich mich seit der Bundespräsidentenwahl vom Sonntag nun wirklich und wahrhaftig für diskriminiert, genauer gesagt: für ostdeutsch dominiert. Erst Merkel und nun noch Gauck! Die eine regiert uns - aus griechischer Sicht Europa im Ganzen, der andere repräsentiert uns sogar global.

Nachdem nun mit diesem ostdeutschen Übergewicht an der Spitze des deutschen Staatswesens die Angleichung Ost offensichtlich in eine eklatante Benachteiligung West umgeschlagen ist, stellt sich die seit 20 Jahren anklagend und fordernd gestellte Frage nach der Gleichheit aller Deutschen völlig neu. Zumal sich die Benachteiligung nach unten rasant fortsetzt: Während im Westen Deutschlands die Schlaglöcher der Straßen langsam die Ausmaße von Braunkohletagebauen annehmen, gleiten die im Osten auf nagelneuem Flüsterasphalt durch die versprochenen blühenden Landschaften. Hinzu kommen die östlichen, von keiner Mauer mehr gestoppten Konquistadoren auf der Suche nach Arbeit, die allein ihrer Jugend wegen die eingesessenen Westler ziemlich alt aussehen lassen. Während sich so ostwärts idyllische, von Menschen leere, von Wölfen durchstreifte Naturräume ausbreiten, wird der Westen demografisch und auch sonst verostet.

Die einen sagen, alles habe sich ganz offenbar verkehrt. Die anderen meinen, alles sei sich gleich geblieben. Beidem stimme ich ausdrücklich zu. Bei den Mundarten beispielsweise hat sich nichts getan, denn nach wie vor versteht der Preuße den Bayern nicht, und das lag noch nie an dem, der nichts versteht. Nicht nur sprachlich nicht, auch mental ist der Rheinländer kein Mecklenburger geworden, und der Schwabe kein Berliner, selbst wenn er sich da Immobilien kauft. Im Osten konsumieren sie grad so wie im prekären Westen bei KIK und Netto, zahlen wie die Westler den Solidaritätsbeitrag Ost, solidarisieren sich also genau genommen mit sich selbst, garantieren als brave Steuerzahler für die horrenden eigenen wie für die hellenischen Staatsschulden und pflegen in etwa dieselben Vorlieben und Vorurteile wie ihre westdeutschen Brüder und Schwestern.

Wenn aber nichts verkehrt und etwas sich gleich geblieben ist, so sei das, sagt man, die Ungleichheit, und die sei natürlich nicht gerecht. Das ist freilich wahr. Noch immer wird es ungerechterweise am Kaiserstuhl in Baden zwei Wochen eher Frühling als am Königsstuhl auf Rügen. Und ökonomisch erwirtschaftet der Westler pro Kopf nach wie vor mehr als der Ostler, wiewohl der Abstand langsam schrumpft. Allerdings sehr langsam. In etwa so langsam wie die Angleichung der Löhne und der Renten im Osten an das Westniveau. Verschärft wird das Problem von einer merkwürdigen Partei, die von der Ungleichheit lebt, aber von der Gleichheit spricht und dabei zwei Begriffe unbeschwert in eins setzt: die Gleichheit, die nie erreichbar ist, es sei denn in einem ideologischen oder religiösen Nirwana, und die Angleichung, die größtmögliche soziale Gerechtigkeit zum Ziel hat und gesellschaftliche Aufgabe bleibt, so lange Menschen auf diesem Planeten leben.

Nachdem nun dieses alles rückschauend und perspektivisch und damit für heute endgültig geklärt ist, wünsche ich unserer ostdeutschen Kanzlerin und – nicht unbedingt ihrem, aber unserem neuen, ostdeutschen Bundespräsidenten Glück bei dem heiklen Unterfangen, die Westdeutschen im Sinne der Angleichung behutsam, aber beharrlich an das Ostniveau heranzuführen.

Joachim Walther, geboren 1943 in Chemnitz, studierte an der Humboldt-Universität Berlin Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. Er war seit 1968 beim Ost-Berliner Buchverlag Der Morgen als Lektor und Herausgeber tätig und arbeitetet für die Wochenzeitschrift Die Weltbühne; später dann als Redakteur für die Literaturzeitschrift Temperamente. Seit 1983 ist Walther als freiberuflicher Schriftsteller tätig. In seinen Werken setzte er sich immer wieder mit Fragen auseinander, die das starre DDR-Regime für ihn aufwarf. Werke u. a. "Risse im Eis" (1989), "Protokoll eines Tribunals" (1991), "Verlassenes Ufer" (1994), "Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR" (1996) und "Himmelsbrück" (2009).
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