Der Wert der Muttermilch
Der thailändische Schriftsteller Rattawut Lapcharoensap hat die Hälfte seines Lebens in den USA verbracht, die andere in seinem Heimatland. Besonders wohl fühlt er sich aber auch in Berlin, wo er seit wenigen Wochen lebt. Zurzeit ist er einer der Gäste des Internationalen Literaturfestivals in der deutschen Hauptstadt.
"Als ich ein kleines Kind war, sah ich in meinem Viertel im Südosten Bangkoks nur Thailänder. Aber Anfang oder Mitte der Achtziger kamen plötzlich Touristen. Wir nannten sie 'farang". Sie waren im Urlaub, ich aber führte nur mein normales Mittelschicht-Leben, ging zur Schule, machte den Abwasch, brachte den Müll raus. Ich wollte kein 'farang' sein, aber ich wollte eine so gute Zeit haben wie sie."
Hier in Berlin, in einem Charlottenburger Café, ist der Thailänder Rattawut Lapcharoensap ein 'farang', ein Fremder. Der 29-jährige Schriftsteller mit dem schmalen Gesicht und den vollen Lippen streicht sich die schwarzen Haare hinter das Ohr. Denn immer wieder fallen einige Strähnen nach vorne und verdecken das Glas seiner Intellektuellen-Brille. Seine Eltern, der Vater ein Professor, die Mutter eine Lehrerin, gehören zur gebildeten Mittelschicht in Bangkok. Aber was auch immer die Eltern in Thailand für Berufe haben – sie zu ehren ist Pflicht für die Kinder:
"Die Figur der Mutter und des Vaters, dieser Menschen, die einem das Leben schenkten, spielt eine äußerst wichtige Rolle im thailändischen Bildungssystem. Jedes Jahr am Muttertag sangen wir in der Schule das Lied 'Der Wert der Muttermilch'. Und alle, die Schüler und die Lehrer, weinten dazu in einer Art Massenhysterie, weil sie so überwältigt waren vom Gedanken an die eigene Mutter. Und alles, was von dieser Liebe abwich, empfand ich als moralisches Armutszeugnis meines Charakters."
2006 erschien in deutscher Übersetzung Lapcharoensaps literarisches Debüt, der Erzählband "Sightseeing". Darin lotet er in einer unprätentiösen, geradezu lapidaren Sprache die Befindlichkeiten thailändischer Kinder und Jugendlicher aus. In einer Geschichte erhält ein thailändischer Junge zum Geburtstag den lang ersehnten Hamburger und verträgt das Fastfood-Essen nicht, in einer anderen ruiniert ein Vater mit seiner Sucht nach dem Hahnenkampf beinahe seine Familie. Rattawut sah mit neun Jahren in Bangkok zum ersten Mal einen Hahnenkampf und war fasziniert. Das Schreiben interessierte ihn erst viel später:
"Als Kind wollte ich nie Schriftsteller werden, sondern Müllmann oder Architekt. Müllmann, weil die Müllmänner mit beeindruckenden LKWs fahren durften. Ich habe mit 20 im College angefangen zu schreiben, habe es einem Lehrer gezeigt. Und er hat mich ermutigt, weiterzumachen. Und dann habe ich schnell herausgefunden, dass ich gar keine Ahnung hatte, wie man eine andere Tätigkeit als Schreiben ausübt."
"Ich habe mich als Koch versucht, ich habe alle möglichen Dienstleistungsberufe des frühen 21. Jahrhunderts ausprobiert. Ich war Gewerkschaftsmitarbeiter, ich habe recht lange Kaffee ausgeschenkt, ich habe Blaubeeren gepflückt, na ja, die üblichen Dinge, die Schriftsteller bis zu jenem Moment tun, an dem sie einsehen, dass sie nicht für das Leben geschaffen sind und von den Arbeitern ausgelacht werden, weil sie nur eins wollen: lesen."
Das war in Chicago. Dreimal zog er als Jugendlicher mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester von Bangkok nach Chicago und wieder zurück, weil sein Vater versuchte, eine Doktorarbeit in den USA zu beenden. Doch daraus wurde letztlich nichts. So blieb die Familie schließlich in Bangkok. Nur Rattawut kehrte zurück nach Chicago, um dort zum College zu gehen. Zuletzt lebte er drei Jahre in New York, gemeinsam mit seiner Freundin, einer Malerin. Beide zogen schließlich im August 2008 nach Berlin, weil er ein einjähriges Stipendium antrat:
"Ich spreche überhaupt kein Deutsch. Das ist schon peinlich. Wenn ich in ein Café gehe, kann ich sagen: 'Einen Kaffee, bitte?' Und das war's. Aber ich mag Berlin und die Stille hier. Wenn man wie ich in New York und Bangkok gelebt hat, gewöhnt man sich an diesen permanenten Geräuschteppich. Es ist, als trüge man ein Geräusch-Tattoo am Ohr. Aber hier in Berlin ist es zum Glück so ruhig! Ich liebe das."
In dieser Ruhe wird er sein zweites Buch fertigstellen, einen Roman, der diesmal nicht nur in Thailand spielt. Und nach dem Stipendium in Deutschland? Ihn zieht es wieder nach Bangkok, erzählt der 1979 geborene Autor und streicht sich wieder eine Strähne aus dem Gesicht. Thailand eigne sich so gut dafür, es literarisch zu verarbeiten:
"Der Slogan, den die Regierung für die Touristen verbreitet, ist: Thailand, das Land des Lächelns, ein freundlicher Ort. Meine Freunde und ich dachten immer: Ja, es ist unglaublich freundlich, wenn du 'farang' bist. Aber wenn du Thailänder bist, dann kann Bangkok der denkbar unfreundlichste Ort sein. Ich habe so viele Thailänder gesehen, die nett zu einem Ausländer sind, sich aber dann umdrehen, ihre Angestellten beschimpfen oder ihnen etwas sehr Böses über die Ausländer sagen."
Hier in Berlin, in einem Charlottenburger Café, ist der Thailänder Rattawut Lapcharoensap ein 'farang', ein Fremder. Der 29-jährige Schriftsteller mit dem schmalen Gesicht und den vollen Lippen streicht sich die schwarzen Haare hinter das Ohr. Denn immer wieder fallen einige Strähnen nach vorne und verdecken das Glas seiner Intellektuellen-Brille. Seine Eltern, der Vater ein Professor, die Mutter eine Lehrerin, gehören zur gebildeten Mittelschicht in Bangkok. Aber was auch immer die Eltern in Thailand für Berufe haben – sie zu ehren ist Pflicht für die Kinder:
"Die Figur der Mutter und des Vaters, dieser Menschen, die einem das Leben schenkten, spielt eine äußerst wichtige Rolle im thailändischen Bildungssystem. Jedes Jahr am Muttertag sangen wir in der Schule das Lied 'Der Wert der Muttermilch'. Und alle, die Schüler und die Lehrer, weinten dazu in einer Art Massenhysterie, weil sie so überwältigt waren vom Gedanken an die eigene Mutter. Und alles, was von dieser Liebe abwich, empfand ich als moralisches Armutszeugnis meines Charakters."
2006 erschien in deutscher Übersetzung Lapcharoensaps literarisches Debüt, der Erzählband "Sightseeing". Darin lotet er in einer unprätentiösen, geradezu lapidaren Sprache die Befindlichkeiten thailändischer Kinder und Jugendlicher aus. In einer Geschichte erhält ein thailändischer Junge zum Geburtstag den lang ersehnten Hamburger und verträgt das Fastfood-Essen nicht, in einer anderen ruiniert ein Vater mit seiner Sucht nach dem Hahnenkampf beinahe seine Familie. Rattawut sah mit neun Jahren in Bangkok zum ersten Mal einen Hahnenkampf und war fasziniert. Das Schreiben interessierte ihn erst viel später:
"Als Kind wollte ich nie Schriftsteller werden, sondern Müllmann oder Architekt. Müllmann, weil die Müllmänner mit beeindruckenden LKWs fahren durften. Ich habe mit 20 im College angefangen zu schreiben, habe es einem Lehrer gezeigt. Und er hat mich ermutigt, weiterzumachen. Und dann habe ich schnell herausgefunden, dass ich gar keine Ahnung hatte, wie man eine andere Tätigkeit als Schreiben ausübt."
"Ich habe mich als Koch versucht, ich habe alle möglichen Dienstleistungsberufe des frühen 21. Jahrhunderts ausprobiert. Ich war Gewerkschaftsmitarbeiter, ich habe recht lange Kaffee ausgeschenkt, ich habe Blaubeeren gepflückt, na ja, die üblichen Dinge, die Schriftsteller bis zu jenem Moment tun, an dem sie einsehen, dass sie nicht für das Leben geschaffen sind und von den Arbeitern ausgelacht werden, weil sie nur eins wollen: lesen."
Das war in Chicago. Dreimal zog er als Jugendlicher mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester von Bangkok nach Chicago und wieder zurück, weil sein Vater versuchte, eine Doktorarbeit in den USA zu beenden. Doch daraus wurde letztlich nichts. So blieb die Familie schließlich in Bangkok. Nur Rattawut kehrte zurück nach Chicago, um dort zum College zu gehen. Zuletzt lebte er drei Jahre in New York, gemeinsam mit seiner Freundin, einer Malerin. Beide zogen schließlich im August 2008 nach Berlin, weil er ein einjähriges Stipendium antrat:
"Ich spreche überhaupt kein Deutsch. Das ist schon peinlich. Wenn ich in ein Café gehe, kann ich sagen: 'Einen Kaffee, bitte?' Und das war's. Aber ich mag Berlin und die Stille hier. Wenn man wie ich in New York und Bangkok gelebt hat, gewöhnt man sich an diesen permanenten Geräuschteppich. Es ist, als trüge man ein Geräusch-Tattoo am Ohr. Aber hier in Berlin ist es zum Glück so ruhig! Ich liebe das."
In dieser Ruhe wird er sein zweites Buch fertigstellen, einen Roman, der diesmal nicht nur in Thailand spielt. Und nach dem Stipendium in Deutschland? Ihn zieht es wieder nach Bangkok, erzählt der 1979 geborene Autor und streicht sich wieder eine Strähne aus dem Gesicht. Thailand eigne sich so gut dafür, es literarisch zu verarbeiten:
"Der Slogan, den die Regierung für die Touristen verbreitet, ist: Thailand, das Land des Lächelns, ein freundlicher Ort. Meine Freunde und ich dachten immer: Ja, es ist unglaublich freundlich, wenn du 'farang' bist. Aber wenn du Thailänder bist, dann kann Bangkok der denkbar unfreundlichste Ort sein. Ich habe so viele Thailänder gesehen, die nett zu einem Ausländer sind, sich aber dann umdrehen, ihre Angestellten beschimpfen oder ihnen etwas sehr Böses über die Ausländer sagen."