"Der Wein, die Forelle und das Möp"

Von Jürgen Schiller · 26.10.2008
Im September 1927 reist Kurt Tucholsky mit zwei Freunden, Erich Danehl ("Karlchen") und Hans Fritsch ("Jakob") in den Spessart und den Odenwald. Drei Schönheiten faszinieren die Freunde: Wald, Wein und die kleinen Städte. Kloster Bronnbach "eine Fermate an Stille", Ochsenfurt, wo die Würfel auf dem Tisch "plärren", Iphofen mit "aufgeregten Gänsen auf den Straßen" und Lichtenau, "die Perle des Spessarts". Tucholsky notiert: "Wenn Landschaft Musik macht: dies ist ein deutsches Streichquartett."
"Deutschland hat zwischen Holstein und Zugspitze mehr Schönheiten als sich seine Schulweisheit träumen lässt."

Gerrit Himmelsbach lässt sich Kurt Tucholsky auf der Zunge zergehen. Musik in seinen Ohren. Gerrit Himmelsbach ist ein scharfer Analytiker, Wissenschaftler, Historiker, Archäologe - aber auch romantisch, träumerisch. Tucholsky passt in seine Spessart-Landschaft.

"Dies ist eine alte Landschaft. Die gibt es gar nicht mehr; hier ist die Zeit stehengeblieben. Wenn Landschaft Musik macht: dies ist ein deutsches Streichquartett."

Tucholsky trinkt mit seinen Freunden Jacob und Karlchen eine Menge Bocksbeutel. Das führt zu Kopfschmerz und "seelischen Ergüssen", vermutet Himmelsbach beim Spaziergang durch das romantische Hafenlohrtal. Ruhe, Waldeinsamkeit, ungewöhnliche Farbspiele: Sonnentupfen zwischen Ästen und Zweigen, Reflektionen von Hell und Dunkel - die Fantasie spielt Quartett.

"Dieser Vergleich, dieser poetische Vergleich mit Musik, ist ein Vergleich, der aus einer Seele kommt, die sich poetisch mit er Landschaft auseinandersetzt. Und das ist der Reiz der Sache. Das heißt, wenn jemand bereit ist, sich selbst mit der Landschaft auseinanderzusetzen, dies künstlerisch umzusetzen in etwas Neues, wie zum Beispiel Tucholsky literarisch, dann ist es eigentlich genau das, was man als Ergebnis vom Durchreisen einer Landschaft haben möchte."

Himmelsbach fährt sich mit den Fingerspitzen durch sein dichtes, dunkles Haar. Sein klein kariertes helles Sporthemd spannt schon etwas. Genuss ist eine Spessart-Tugend. Tucholsky und seine Freude singen davon ein literarisches Lied. Himmelsbach ist Geschäftsführer beim Spessart-Projekt, kümmert sich um diese einmalige Kulturlandschaft, gestaltet Geschichte und Literatur in moderner Form.

"Die hat sich über Jahrhunderte hinweg durch diese Landschaft gezogen und beginnt im Mittelalter mit dem Nibelungenlied, wo als Beispiel für einen Wald der Spessart beim Namen genannt wird. Das heißt, seit dem Mittelalter spielt der Spessart in der Literatur eine Rolle. Und das geht bis heute. Gerade hier im Hafenlohrtal sind wir weiter dran, dass es ein Lesefest geben wird, wo wir in mehreren Stationen dann vorlesen werden: Literatur aus dem Spessart für den Spessart. Und da geht es um die Schwerpunkte wie Dialekt, aber auch Märchen, natürlich mit Hauff, und letztlich, dass auch Leute alte Geschichten aus den Dörfern erzählen."

Die Sonne, Leuchtspur zwischen Wiesen und leichtem Gestrüpp, verschwindet. Helligkeit und Leichtigkeit der Landschaft wandeln sich in Dunkelheit und Schwermut. Buchen, Eichen, Fichten - Statisten auf literarischer Bühne. Himmelsbach holt aus seinen Jeans noch einmal den Tucholsky-Text - zwei Seiten, rausgerissen aus einem Sammelband.

"Der Laubwald herrscht vor, hügelig aufgebaut, mit hohen, weiten Wipfeln; manchmal, bei grauem Wetter, steht so eine dunkelgrüne Masse starr und still in der Luft, ruhend, unbeweglich. Es liegt ein musikalischer Friede auf den Waldschneisen, weite sonnenbetupfte Wege gibt es , über die irgendein kleines Tier hoppelt, dann ist es wieder ganz still, und wenn nicht gerade, was selten ist, ein Flieger über die hohen Bäume dahin donnert, dann können sie die Zeit vergessen und, wenn sie wollen, auch sich selbst."

Bei Tucholsky Propeller, heute Düse. Keine Störung, nur ein Wimpernschlag - vergessen - Ruhe, der Wald als Kulisse: Stamm an Stamm wirken die Fichten jetzt wie Palisaden. Der Wald der zwei Gesichter.

"Ja der Spessart hat zwei verschiedene Gesichter: Das eine Gesicht, das sind die Auen, die Täler, die offenen Täler, durch die man gerne geht. Jede Windung bringt ein neues Bild von so einem Tal mit sich, das ist etwas außergewöhnliches. Die andere Seite, das ist der "Räuberwald" - der daher kommt, dass der Spessart ja eigentlich eine flache Buntsandsteinplatte ist. Und wenn man oben entlangläuft und hat nur Wald, dann sieht man immer nur die nächsten Bäume und denkt: Oh, oh, hört es denn niemals auf. Es ist ein Meer von Wald - aber gerade dieses Meer von Wald will eben auch entsprechend bewirtschaftet sein, dass es erhalten bleibt und nicht etwa entweder gelichtet wird oder sich so zu einem Urwald verändert, dass man gar nicht mehr durchkommt."
Noch kommen wir durch. Himmelsbach wird schneller, der Genussmensch gewinnt die Oberhand, das Gasthaus zum Hochspessart lockt mit einer Köstlichkeit, die auch Tucholsky und seine Freunde in ihren Bann zieht: Forelle blau.

"Ein bisschen Geheimnis muss auch sein. Und zwar ist das Liebstöckel, Maggi Kraut sagt man bei uns - ein gutes Gewürz auch für Suppen und Saucen und hauptsächlich für den Fischsud. Es sollte schon eine frische sein, früh geschlachtet, dann ist sie noch richtig schön feucht. Nein, zappeln tut sie nicht mehr, aber richtig schön feucht, richtig rein, und dann in den Sud. Und schon sehen sie, wie sie sich schön blau färbt. Die Forelle kommt hier aus unserer Nachbarschaft im Hafenlohrtal, und somit haben wir auch immer eine ganz frische Sache. Und er hat es ganz bestimmt in Wein ausschwimmen lassen. (Lachen.)"

Marianne Geis, die Wirtin, ist eine geborene Frohnatur. Immer wieder der Wein bei Tucholsky und seinen Freunden. Es ist der September 1927. Trennung von seiner zweiten Frau, die Arbeit an der "Weltbühne" macht immer weniger Spaß. Ablenkung durch Reisen und Wandern. Würzburg, Ochsenfurt, Iphofen, Kloster Bronnbach, die Lichtenau, dann sein Wirtshaus im Spessart. Marianne Geis ist mit dem literarischen Text bestens vertraut.

"Lichtenau, Sonnabend. Die Perle des Spessarts. Dies ist nicht das Wirtshaus im Spessart, das liegt in Rohrbrunn - aber wir benennen das um. Hier ist es richtig. Und als wir ins Gasthaus traten, siehe, da viel unser Auge auf ein Schild: Autoverkehr! Automobil-Leichenwagen nach allen Richtungen. Des freute sich unser Herz, und froh setzten wir uns zum Mahle."

Das Schild gibt es nicht mehr, aber die Forelle, den Wein und die Gaststube mit dem Ecktisch. Präparierte Hirsch- und Keilerköpfe, ausgestopfte Vögel, dunkles Holz, ein alter, grüner Kachelofen.

"Und hier dann in der kleinen Stube - da saßen sie dann, Tucholsky und seine beiden Kumpane oder Freunde. Da haben sie dann hier in diesem Raum, an diesem Tisch Platz genommen - der Raum ist schon seit 1926 so gestaltet mit der Eichenholzvertäfelung, einem schönen Kachelofen hier in der Ecke. Und das war der Tisch für Tucholsky und seine Freunde, die saßen hier und haben sich all das gut zu Munde geführt."

Fotos an den Wänden: Tucholsky, Jakob und Karlchen neben dem 1. Lichtenauer Förster. Als Beilage: Bussard, Hühnerhabicht und Sperber. Hier wird Wein zur Literatur. Voller Vergnügen blättert die Wirtin im Text.

"Ein mitleidiger Gast, der bei dem Wirte wundermild zur Kur weilt, sieht herüber. Darf ich einmal versuchen? Er versucht. Und geduckten Rückens sagt dieser Feigling: Meine Herren, der Wein schmeckt nicht nach dem Korken. Wenn er nach dem Korken schmeckt, dann möpselt es nach… Natürlich möpselt es. Wir hatten keine Ahnung, was das Wort bedeutete - aber es ging sofort in unsern Sprachschatz über. Jeder Weinkenner muss wissen, was möpseln ist."

Mariane Geis lacht in sich hinein, schüttelt ihre halblangen grauen Haare, zieht das sportliche T-Shirt glatt. Auf dem Tisch eine Pappschachtel mit alten Familienfotos, vergilbten Dokumenten, einer Tucholsky-Biografie. Spessartgeschichte. "Und all das hat sich hier in meiner Wirtsstube abgespielt", sagt sie stolz. Der Wein, die Forelle und das Möpseln.

"Ja, das hat sich dann doch aus der Geschichte fortgetragen. Und bei uns korkst der Wein nicht, bei uns möpselt der Wein. Aber das ist ja heute alles nicht mehr drin. Heute haben sie ja alle Schraubverschluss. Nur die ganz, ganz edlen, teuren Bocksbeutel, die haben natürlich noch Kork. Und da kommt es auch vor, dass er möpselt."

Die 3er Möpselbande sucht Ruhe, Einsamkeit, Idylle - die Lichtenau hat all das pur: ein Ort mit Seele, bis heute nicht ganz in der Zeit angekommen. Funkloch für Handys, Zimmertelefon ist tabu, Fernsehen unbekannt.

"Wir hatten sogar bis 2002 eine eigene Stromversorgung. Da ist nachts das Aggregat abgeschaltet worden. Um 23 Uhr war alles ruhig. Man hat kein Auto mehr gehört, kein Aggregat mehr, kein Telefon - nichts. Nur noch um sich herum Ruhe, Stille, Vogelgezwitscher - das wars."

Die Reise der drei Freunde ist Geschichte und Gegenwart. Marianne Geis als menschlicher Navi mit klassischem Text:

"In einem Weindorf Montag. Heimbuchenthal Dienstag. Würzburg Mittwoch."

Und dazwischen noch der Kurztrip ins Kloster Bronnbach, bei Wertheim, knapp 40 Kilometer vor Würzburg. Eine kleine unscheinbare Straße, eine Kurve, und dann liegt in einer Senke die Zisterzienser Abtei. Leichtes Rot und Ocker, an der Außenfassade wilder Wein, im Garten vor der Pforte Putten und Heiligenbilder.

"Manchmal trifft man's ganz idyllisch: Kloster Bronnbach ist wie eine Fermate der Stille, nicht einmal der nahe Eisenbahndamm kann uns stören, Klosterhof und berankte Mauer atmen Ruhe und Beschaulichkeit; es sind jene Flecken, die in jedem Großstädter unweigerlich den Wunsch erwecken: hier sollte man… hier müßte man…. Und dann geht man weiter."

Dorothea Wolf liest den Tucholsky Text etwas sperrig, Tucholsky, da hat sie ein Problem. Dorothea Wolf ist in Bronnbach eine Institution, ein wandelndes Lexikon. Spannend vermittelt sie Klostergeschichte, ist stolz auf die Anlage, vor allem auf die Klosterkirche. Leben ist da, auch wieder vier Padres, Hochzeiten, Gottesdienste. Eine lebendige Kirche, ein aktives Kloster, mit Theater, einem Fraunhofer Institut, Staatsarchiv und eine florierende Vinothek.

"Also, wenn er sich hier durch unsere Vinothek hätte durchsaufen wollen, da hätte er dann schon eine Weile gebraucht. Und ob er das Treppchen noch hochgekommen wäre, das ist auch fraglich. Seit letztem Juli haben wir hier diese schöne Vinothek, ehemaliges Cellarium, also der Keller des Klosters - der ganze Tauberlauf, von der Quelle bis zur Mündung. Und die Tauber fließt durch drei Weinanbaugebiete. Und die haben wir hier in hundertfältiger Präsentation."

Der Weg wieder zum Tageslicht. Durch den Kreuzgang in die Kirche, die auch Tucholsky besucht. Barockaltäre, Rokokoaltäre, holzgeschnitztes Chorgestühl, eine Schlimbachorgel. Dorothea Wolf und ein erneuter Versuch mit dem Tucholsky-Text.

"Hier in Bronnbach steht eine schöne Kirche; darin knallt das Gold des alten Barock auf weißgetünchten Mauern. Ein alter Klosterhof ist da. Mönche und die bunte Stille des Herbstes. Wie schön müsste diese Reise erst sein, wenn wir drei nicht hier wären."

Erzählen ist für Dorothea Wolf wichtiger als Lesen. Seit 1983 macht sie Führungen. Der Vater ist in den 20ern fürstlicher Verwalter, der Großvater fürstlicher Förster. Ihr Man spielt den Jakobspilger, ihr Sohn macht Theater. Dorothea Wolf ist zurückhaltend elegant gekleidet, die grauweiße Leinenjacke passt zum silbernen Brillengestell und den relativ kurzen, grauen Haaren. Bronnbach und das Kloster - und wieder gerät sie ins Schwärmen.
"Und für mich ist ein Gottesdienst, vor allem, wenn es noch ein feierliches Hochamt ist - da schwärme ich immer von, wenn von der Seite die Sonnenstrahlen herein scheinen und wenn noch Weihrauch dabei ist. Dann steigt dieser Weihrauch hoch und wird da von der Sonne beschienen. Also, das ist ganz toll.

Und dann hat die Kirche eine wunderbare Akustik - bei uns singt sogar der mickrigste Kirchenchor schön. Und dann, wenn ich aus der Kirche heraus komme, und die Sonne scheint durch das Maßwerk des Kreuzgangs. Wenn ich dann Feierabend habe, und es ist ein schöner Tag. Ich schließe hier und komme heraus… und die Wärme - man meint, man sei im Süden."

Draußen vor dem Kloster Spaziergänger. Vogelgezwitscher. Ein Zug donnert vorbei. Dorothea Wolf ist eigentlich ganz zufrieden mit sich, dem Kloster, Bronnbach und dem Besucher. Nur Tucholsky, da kriegt sie lange Zähne, der hat doch nur ganz kurz über die Kirche… und dann vielleicht der Wein und die Satire. Nichts erinnert an Tucholsky.

"Ich glaube, das muss auch nicht sein. Ich werde das mal vorbringen, dass wir einen Schauspieler… Wir hatten auch schon Lesungen, und vielleicht könnte man das dann auch in Verbindung mit Tucholsky… Das wäre eine Anregung. Er hat zwar nichts mehr davon…"

… lacht und verabschiedet sich von Kurt Tucholsky.

"Dies ist hängengeblieben, wie ja immer etwas zurückbleibt. Man fühlt hier ungeheuer intensiv, was das ist, Deutschland."

Besonders intensiv in Würzburg: Beginn und Abschied - Anfang und Ende der Reise. Eine Atmosphäre aus Barock und Lebensfreude, aus Architektur und Kultur. Touristenmassen in den Straßen, vor der Bilderbuch-Geschichtskulisse aus Dom, Festung und Residenz. In der Bastei mäkelt Tucholsky am Führer, will mehr Steinwein trinken. Der Wein aus Würzburg - flüssige Literaturgeschichte.

"Wir haben natürlich einen Bezug zu Goethe, der den Steinwein schon immer hochleben ließ und auch den Würzburger Wein. In seinem Brief an seine Frau in Jena 1806: Und bitte sende mir doch einige Würzburger, denn kein anderer will mir munden und ich bin verdrießlich, wenn mir mein gewohnter Lieblingstrank abgeht. Oder aber auch Friedrich Schiller, der einmal geschrieben hat über die Weine des Juliusspitals: Oh Ring, oh Stab, auf den Steinwein Flaschen seid ihr mir am willkommensten - ja, wer seine Schafe so tränket, der heißt mir ein wahrer Hirte.

Dann gibt es natürlich viele Bezüge: Tucholsky, der den Silvaner ja sehr geliebt hat und auch dem Wein gefrönt hat, hat einmal gesagt: Schade, dass man den Wein nicht streicheln kann. Und das setzt sich auch fort, auch in der modernen Literatur. Es gibt ja Kriminalromane hier im lokalen, regionalen Raum, die das Thema Wein aufgreifen. Wein in Würzburg, das ist überall zu finden, das durchtränkt diese ganze Kultur- und Weinmetropole Franken."

Der Mann weiß, wovon er redet - der Mann ist ein Kenner und Liebhaber des flüssigen Genusses. Der Mann ist Horst Kolesch, verantwortlich für das zweite größte deutsche Weingut, dem Juliusspital. Über 425 Jahre Geschichte, modernes Dienstleistungsunternehmen mit Krankenhaus, Senioren- und Pflegestift, Landwirtschaft, Forsten und immer wieder Wein. Tucholskys Spessartreise ist ideale Lektüre im hauseigenen Weinlokal.

"Als wir das erste Glas getrunken hatten, wurden wir ganz still. Karlchen hatte eine 'Edelbeeren-Trocken-Spät-Auslese' erfunden, von der er behauptet, sie sei teuer, dass nur noch Spinnweben in der Flasche…. Aber dieser war viel schöner. Ein 21er, tief wie ein Glockenton, das ganz große Glück. (Säuferpoesie, Säuferleber, die Enthaltsamkeitsbewegung - Sie sollten, junger Freund….) Das ganz große Glück. Das Glück wurde noch durch ein Glanzlicht überhöht: Der Wirt hatte einen 17er auf dem Fass, der war hell und zart wie Frühsommer. Man wurde ganz gerührt; schade, dass man einen Wein nicht streicheln kann."

Natürlich kann man ihn streicheln - Kolesch amüsiert sich, greift zur Flasche, beweist das Gegenteil.

"Man hätte es nicht schöner sagen können. Man kann einen Wein in der Tat streicheln, indem man ihn aufnimmt, mit der Zungenspitze, mit etwas Schlürfen über die Zunge gleiten lässt, über die Zungenflanken, indem man ihn an den Gaumen drückt, indem man ihn erwärmt, damit er seine volatilen Aromen freisetzen kann. Und dann lässt man ihn langsam über die Zunge gleiten und genießt jeden Eindruck, den dieser Schluck Wein dann hinterlässt."

Eine Liebeserklärung durch Wein an Tucholsky. Kolesch ist jetzt in seinem Element, schwärmt von den guten Lagen und Erträgen von alten Reben und neuen Sorten. In der Flasche mit dem 2007er Silvaner ist noch ein kleiner Schluck. Kolesch nimmt sich die Tucholsky-Reise, macht die Probe.

Zehn Minuten Fußweg durch Würzburg, mit dem Weltkulturerbe Residenz, dem Bildhauer Tilmann Riemenschneider, dem Baumeister Balthasar Neumann. Dann die über 500 Jahre alte Mainbrücke mit dem Zauber der Heiligenfiguren. Hier trifft Tucholsky seine Prinzessin. Hier endet seine Reise. Hier verbindet Kolesch Erzählung mit Erkenntnis, Geschichte mit Realität. Tucholskys Text auf alter Brücke zwischen Tauben und Touristen.

"Auf der schönen Mainbrücke steht ein Nepomuk - wir gehen hin und legen ihm einen Glückspfennig zu Füßen, um die Ehrlichkeit des Heiligen und der Bevölkerung zu prüfen. Morgen wollen wir nachsehen. (Wir sehen aber nicht nach, und nun liegt der Pfennig wohl heute noch da.)"

Kolesch bückt, sucht. Der Heilige Nepomuk blickt spöttisch, die rechte Hand erhoben, ein Kreuz - die linke Hand am Körper, eine Bibel. Überm Kopf ein Sternenkranz.

"Na, mal schauen, ob der da noch liegt - mal gucken. Nee, da liegt nichts. Vielleicht hinter dem Nächsten, mal gucken. Na gut, er liegt nicht mehr da. Aber was achten wir denn hier auf diese materiellen Dinge, wo es doch viel Schönes und Ideelles zu genießen gibt. Ich meine, Kurt Tucholsky hat schon recht, wenn er in seiner Erzählung 'Wer kennt Odenwald und Spessart?' schreibt: 'Deutschland hat zwischen Holstein und Zugspitze mehr Schönheiten als sich seine Schulweisheit träumen lässt.'"