Der Weg zur ersten Fußball-EM

Sindelar und das Wiener Wunderteam

08:17 Minuten
Der österreichische Fußballspieler Matthias Sindelar im Trikot von Austria Wien. Um 1932.
Eine Erfolgsgeschichte der Zwanzigerjahre: Matthias Sindelar erhielt aufgrund seiner Prominenz sogar damals schon Werbeaufträge. © picture alliance / Imagno / Votava
Von Costantin Eckner · 09.06.2021
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Lange vor der ersten Fußball-EM der UEFA im Jahr 1960 haben die besten Nationalteams des Kontinents einen Pokal ausgespielt. Oft vergessen ist das damalige Wunderteam Österreichs um Matthias Sindelar. Die Deutschen wollten damals nicht mitmachen.
Wien in den 1920er-Jahren. In der Kaffeehausstadt wird ein Fußballer, den sie aufgrund seiner schmächtigen Statur den "Papierenen" nennen, zum Gesprächsthema an den Tischen: Matthias Sindelar, geboren als Matěj Šindelář 1903 im tschechischen Kozlov, wuchs als Kind im Wiener Arbeiterbezirk Favoriten auf und entdeckte schon früh seine Begabung für den Fußball.
Wenn er nicht gerade als Schlosserlehrling schuftete, dann fegte Sindelar furios über die Fußballplätze Wiens und erzielte für die Mannschaften der ASV Hertha und später der Wiener Austria Tor um Tor.
"Den würde ich so als einen der ersten großen Stars bezeichnen. Das ist erst einmal ein unglaublich talentierter Fußballer, der für sich entdeckt, dass er mit dem Fußball Geld verdienen kann und dass er durch den Fußball auch eine Popularität erreichen kann durch diese Aufmerksamkeit, die der Fußball in Wien bekommt", sagt Hardy Grüne, Fußballhistoriker und Herausgeber des Zeitspiel-Magazins.
"Zu dieser Zeit haben wir in Wien eine Profiliga, an der nur Wiener Vereine teilnehmen. Das heißt, an jedem Wochenende haben wir eine ganze Anzahl an Profifußballspielen mit hohen Zuschauerzahlen. Und die großen Spieler sind ruckzuck sehr populär."

Der erste Posterboy des Fußballs

Sindelar war eine Erfolgsgeschichte der Zwanzigerjahre. Und Wien mit seiner ersten Profiliga Kontinentaleuropas das Fußball-Mekka der damaligen Zeit. Matthias Sindelar erhielt aufgrund seiner Prominenz sogar damals schon Werbeaufträge für Anzüge, Uhren und Molkereiprodukte. Der erste Posterboy des Fußballs:
"Er hatte auch versucht, diese Lebemannseite des Fußballs auszuschöpfen. Da ist ein großer Wandel festzustellen, der wegkommt von so einem reinen Sport zu so einer Art von Unterhaltungsindustrie. Da wird Fußball eigentlich groß."
Sindelar wurde auch zum Gesicht des immer professionelleren und kommerzielleren Fußballs in Österreich. Die treibende Kraft hinter dieser Modernisierung der Strukturen waren Funktionär Hugo Meisl und der englischstämmige Nationaltrainer Österreichs Jimmy Hogan.
Willy Meisl, der Bruder von Hugo, schrieb später: "Sindelar stand stellvertretend für den Fußball in Österreich in dieser Glanzzeit: keine Muskeln, dafür aber sehr viel Hirn. Technik, die an Virtuosität und Präzisionsarbeit grenzte."

Erster Nationencup war ein Straßenfeger

Die Österreicher waren nicht die einzige gedeihende Fußballnation der Zwanzigerjahre. Auch die Ungarn oder Italiener nahmen die Sportart immer ernster und führten das Profitum ein. Und so kam es in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre dazu, dass sich einige europäische Länder bei einem Turnier miteinander messen wollten im ersten "Europapokal der Fußball-Nationalmannschaften".
Je nach Lesart entstand dieser Wettbewerb entweder auf Betreiben von Hugo Meisl oder des Generalsekretärs des französischen Fußballverbands Henri Delaunay. In jedem Fall spielten fünf der damals professionellsten Nationalteams zwischen 1927 und 1930 in einem Ligamodus gegeneinander. Ein Straßenfeger: In die Stadien quetschen sich mehr Zuschauer als bei heutigen EM-Spielen.
Der Sieger des ersten Europapokals der Fußball-Nationalmannschaften hieß Italien. Einen Punkt dahinter Österreich vor Tschechoslowakei. Der Wettbewerb sollte bis 1935 noch zwei weitere Male ausgetragen werden. Die vierte Austragung wurde nach der Annexion Österreichs im März 1938 abgebrochen.

Österreichs Fußball auf seinem Höhepunkt

Auch Matthias Sindelar spielte bei diesen ersten Europameisterschaften groß auf: Beim Turnier 1931/32 verhalf er mit seinen vier Toren dem österreichischen "Wunderteam" zum Sieg und feierte 1933 mit der Wiener Austria dank seiner Tore den Gewinn des Mitropacups – der damals ersten internationalen Clubmeisterschaft in Europa, ähnlich zur Champions League heute.
Der österreichische Fußball befand sich auf seinem Höhepunkt. Dann kam der Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Das österreichische Nationalteam wurde aufgelöst, die Wiener Austria als "jüdischer Verein" vorübergehend verboten und viele Top-Spieler verließen fluchtartig das Land.
Anlässlich der Annexion wurde ein sogenanntes "Anschlussspiel" organisiert, in dem das alte österreichische Team auf die deutsche Nationalmannschaft traf. Sindelar, der sein Land als Kapitän aufs Feld führte, ließ es sich nicht nehmen, nach seinem Führungstreffer einen provokanten Freudentanz direkt vor der Ehrentribüne der Nationalsozialisten aufzuführen. Eine Nominierung für die "großdeutsche" Mannschaft lehnte er mehrmals ab. Sindelar starb unter mysteriösen Umständen im Januar 1939.

FIFA war gegen Europameisterschaft

Als in Europa der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg in vollem Gange war, nahm auch der internationale Fußball wieder seinen Betrieb auf. Der Europapokal der Fußball-Nationalmannschaften wurde zwei weitere Male ausgetragen und sollte dann auf Drängen des europäischen Fußballverbands UEFA unter Präsident Pierre Delaunay, dem Sohn von Henri, durch eine groß angelegte Europameisterschaft mit mehr Teams ersetzt werden.
Allerdings kämpfte die UEFA nach ihrer Gründung 1954 selbst noch um Anerkennung. Ihre Idee stieß auf wenig Gegenliebe beim Weltverband FIFA. Der sah eine Konkurrenz zur Weltmeisterschaft.
Zu viele Wettbewerbe seien schädlich, hieß es aus der FIFA-Zentrale in Zürich von Präsident Jules Rimet: "Wollen wir tatsächlich in jedem unserer Länder alles im Fußball auf eine Wettbewerbsebene verlagern? Der Wettbewerbsgeist wird zu stark herausgestellt. Besteht nicht die Gefahr einer zu betonten Kommerzialisierung?"
Rimets Landsmann Delaunay ließ sich aber nicht beirren und setzte für 1959 die Qualifikation für die erste Europameisterschaft an. Zum Stichtag der Anmeldung am 15. Februar 1958 waren zunächst nur 15 Verbände gemeldet, die Frist wurde deshalb noch einmal um ein paar Monate verlängert. Am Ende schickten 17 der damals 31 Verbände Teams ins Rennen.

Herberger war die erste EM 1960 zu viel Stress

England, Deutschland und Italien blieben freiwillig außen vor. Ihnen war die Weltmeisterschaft alle vier Jahre genug Stress, zumal 1962 das Turnier im entfernten Chile ausgetragen wurde.
Bundestrainer Sepp Herberger kommentierte: "Zwischen den Weltmeisterschaften ist der Neuaufbau einer starken Nationalelf die erste Aufgabe. Da stört ein Europaturnier nur."
Die Qualifikation für die Endrunde der EM erstreckte sich über ein Jahr und wurde wieder von der Politik beeinflusst. So durften die Spanier auf Anweisung von General Franco nicht zum Auswärtsspiel in die Sowjetunion reisen. Die Spieler erfuhren von der finalen Entscheidung, als sie bereits am Flughafen von Madrid standen. Der alternde Star Alfredo Di Stéfano war entsetzt.
"Warum, warum, warum", soll er immer wieder gestammelt haben, als ihm bewusst wurde, dass ihm die Chance auf einen Titel mit dem Nationalteam verwehrt bleiben wird.

Sowjetunion wird erster EM-Endrundensieger

Die Sowjetunion gewann am grünen Tisch und entschied im Sommer 1960 die erste EM-Endrunde für sich. Neben der Sowjetunion nahmen noch Gastgeber Frankreich sowie die Tschechoslowakei und Jugoslawien teil.
Historiker Hardy Grüne: "Im Osten hat man die Europameisterschaft von vornherein ernstgenommen und hat sie als Chance begriffen, sich zu präsentieren. Wir sind ja im Kalten Krieg. Im Ostblock hat man die Chance gesehen, sein System als überlegen darzustellen und das auch im Fußball zu zeigen."
Die Sowjetunion stand auch 1964 im Finale, verlor dieses aber ausgerechnet gegen Spanien, das als Gastgeber firmierte und vor 80.000 entfesselten Zuschauern in Madrid zum Sieg stürmte. Mit der Zeit legten auch die zunächst unwilligen westeuropäischen Verbände ihre Bedenken ab und meldeten ihre Nationalteams für die Europameisterschaft, die heute eine feste Größe im internationalen Fußballkalender ist.
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