Der Wahrheit auf der Spur

Der amerikanische Philosoph Donald Davidson vertritt die These, dass die Unterscheidung von wahr und falsch eine grundlegende und unableitbare Bedingung dafür ist, überhaupt denken zu können. Seiner Ansicht nach ist Wahrheit etwas für jegliche Bewusstseinsleistungen Primäres.
In der Moderne hat man sich daran gewöhnt, Wahrheit für nur einen „Wert“ unter anderen zu halten. Wissenschaftler mögen an ihr interessiert sein, Strafrichter und misstrauische Eheleute auch, aber schon bei Untersuchungsausschüssen und Radsportverbänden kommen Zweifel auf. Von Künstlern und der Werbewirtschaft ganz zu schweigen.

Friedrich Nietzsche hat diese Bedenken schon vor mehr als 100 Jahren ins Fröhliche gewendet: Der Mensch sei eben ein lügenreiches Wesen, erfindungsreich, einbildungskräftig und gewiss nicht dort im Zentrum seiner Kraft, wo es um Wahrheitsfragen geht. Hinter Wahrheitsansprüchen, so Nietzsche mit dem ganzen 19. Jahrhundert, stecken vielmehr Interessen und Machtansprüche, politische, ökonomische, erotische, kulturelle. Wahrheit ist etwas Sekundäres.

Donald Davidson, der zusammen mit seinem Lehrer William V. O. Quine vielleicht der einflussreichste amerikanische Philosoph der Nachkriegszeit war, sah das anders. In seinen hier erstmals auf deutsch vorgelegten Aufsätzen aus den 20 Jahren vor seinem Tod 2003 – Davidson hat überhaupt nur Aufsätze und nicht eine einzige Monographie publiziert – vertritt er die These, dass die Unterscheidung von wahr und falsch eine grundlegende und unableitbare Bedingungen dafür ist, überhaupt denken zu können. Wahrheit ist etwas für jegliche Bewusstseinsleistungen Primäres.

Davidsons Argument: Tiere, Maschinen und Softwareprogramme können viel. Sie können wahrnehmen, rechnen, unterscheiden, in Sekundenbruchteilen Tausende von Operationen durchführen. Aber sie sehen nicht, dass etwas der Fall ist. Denn dazu müssten sie, laut Davidson, Überzeugungen und mithin einen Begriff der objektiven Wahrheit haben. Sie müssten nämlich ein Bewusstsein von der Möglichkeit besitzen, sich mit ihren Vorstellungen irren und die Wirklichkeit verfehlen zu können – ein Bewusstsein davon also, dass die Wahrheit von Gedanken sich nicht durch die Gedanken selber entscheiden lässt. „Es gibt keinen zentraleren Begriff als den der Wahrheit, denn um überhaupt einen Begriff zu haben, muss man wissen, was es hieße, dass dieser Begriff auf etwas anwendbar ist, und zwar natürlich so, dass er zutrifft“.

Denken setzt also Überraschungsfähigkeit durch die Wirklichkeit voraus. Und es setzt, so die zweite These Davidsons, voraus, dass die meisten unserer Gedanken zutreffen. Wie denn das? Davidson gibt ein simples Beispiel. Wer sich fragt, ob gerade eine schwarze Schlange über den Wohnzimmerteppich kriecht, der muss eine sehr lange Liste von Begriffen als zutreffend voraussetzen, um eine solche Frage überhaupt in sich bewegen zu können. Er muss glauben, dass es Schlangen gibt; dass Schlangen Tiere sind, die sich kriechend bewegen und in ein Wohnzimmer passen; dass „schwarz“ nicht dasselbe wie „grün“ ist; dass die Existenz von Dingen nicht davon abhängt, ob man sie gerade berührt. Und so weiter.

Jeder Gedanke setzt also zahllose andere Gedanken voraus. Es gibt keine isolierten Wahrheiten. Und jeder Gedanke, selbst der unzutreffende Gedanke, setzt voraus, dass es in seiner Umgebung viele wahre Aussagen gibt.

In seinen Aufsätzen geht Davidson aber nicht nur den Bedingen dafür nach, was es heißt, ein rationales, verständiges, denkendes Wesen zu sein. Er beleuchtet ebenso scharf das Gegenteil, die Irrationalität. Wie kann es beispielsweise sein, daß wir wider besseres Wissen handeln? Wie ist Willensschwäche möglich? Gegen die ersten guten Vorsätze fürs neue Jahr dürften schon verstoßen worden sein. Aber warum? Haben wir sie, wenn wir ihnen zuwiderhandeln, einfach vergessen? Oder verstoßen wir unabsichtlich gegen sie, weil es gar keine absichtliche Irrationalität gibt?

Der schönste Aufsatz des Bandes hat den Titel „Wer wird zum Narren gehalten?“ Darin beschäftigt sich Davidson am Beispiel von „Madame Bovary“ und „Ulysses“ mit einer besonders spektakulären Form der Irrationalität: mit unserer Fähigkeit zur Selbsttäuschung – aber auch mit der Fähigkeit der Schriftsteller Flaubert und Joyce sowie des Präsidenten Ronald Reagan, sich selbst zu betrügen. „Ist Lügen etwas, das man tun kann, ohne es zu wissen?“

Wer Philosophie für eine abstrakte Sache hält, der sollte Davidsons Überlegungen zu solchen Fragen lesen. Am Ende gibt es dann noch, gewissermaßen als Bonus-Material, ein farbenreiches Interview mit Davidson über seinen durchaus merkwürdigen Lebenslauf, der ihn von der Literatur über die Altphilologie, den Kommunismus, die Betriebswirtschaftlehre und die Tätigkeit als Flugzeugspäher zur Philosophie führte. Als Einführung in die Gedankenwelt eines der interessantesten Philosophen unserer Zeit ist dieses Buch auf manchen seiner Seiten eine Anstrengung, auf vielen ein Vergnügen und auf allen ein Gewinn.

Rezensiert von Jürgen Kaube

Donald Davidson: Probleme der Rationalität
Übersetzt von Joachim Schulte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006,
446 Seiten, 28 Euro.