Der Wahl-Berliner am Bosporus

Als Regierender Bürgermeister Berlins und Kämpfer gegen die sowjetische Blockade der Stadt wurde Ernst Reuter berühmt. Weniger bekannt ist, dass Reuter die Nazizeit als Exilant in der Türkei verbrachte. Reiner Möckelmann beleuchtet diese Zeit und stellt einen Mann vor, der mit seinem Land hadert und im Exil eine Widerstandsbewegung gründet.
Nicht nur in Berlin ist der Name Ernst Reuter bekannt: Zwischen 1948 und 1953 profilierte sich der Regierende Bürgermeister als Gegner aller Versuche der sowjetischen Militäradministration, die Stadt zu übernehmen. Weniger geläufig ist Reuters Vorgeschichte – und diese hat sich der ehemalige Diplomat Reiner Möckelmann vorgenommen. Zwischen Juni 1935 und November 1946 lebte Reuter im Exil in der Türkei, hielt engen Kontakt zu anderen Auswanderern und war Mitbegründer des „Deutschen Freiheitsbundes“, der auf den Sturz Hitlers und die schnelle Wiederherstellung demokratischer Strukturen in Deutschland abzielte.

Möckelmann ist kein Historiker und gerade diese Tatsache macht sein Buch zu etwas Besonderem. Als ehemaliger Leiter der Wirtschaftsabteilung an der Botschaft in Ankara sowie Ex-Generalkonsul in Istanbul nutzt er bislang weitgehend unerschlossene Quellen, Botschaftsdokumente, Berichte und Depeschen, anhand derer er ein detailgetreues Bild von Reuters Jahren in der Türkei entwirft.

Für Reuter wurde sein Gastland – das der Architekt Martin Wagner als „Wartesaal 1. Klasse“ bezeichnete – bald zur zweiten Heimat. Er beriet das türkische Wirtschaftsministerium in Tarif- und Verkehrsfragen, lehrte an der Universität Ankara und beherrschte das Türkische nach einigen Jahren so gut, dass er die Kreuzworträtsel in den Zeitungen lösen konnte. Er traf sich mit seinen Schicksalsgenossen im Exil und schmiedete Pläne für den Wiederaufbau Deutschlands.

Aus all dem entsteht das Bild eines vielseitig gebildeten Mannes, eines kompromisslosen Gegners der Nazis, der gleichzeitig seiner Heimat die Treue hielt und lange Zeit versuchte, die völlige Zerstörung Deutschlands abzuwenden.

Nazi-Machenschaften beim vorderasiatischen Bündnispartner
Aber Möckelmann geht noch sehr viel weiter: Nicht nur das Schicksal Ernst Reuters interessiert ihn, er befasst sich auch mit Reuters Mitexilanten und ihren Versuchen, sich in der Türkei zu positionieren, und er beleuchtet die Rolle der deutschen Vertretungen, die die Auswanderer unter ständiger Beobachtung hielten.

Mit akribischer Genauigkeit widmet sich Möckelmann den Geschehnissen im Hintergrund, ob nun Berlin versucht, Lehrstühle in der Türkei mit „nationalsozialistisch einwandfreien Persönlichkeiten“ zu besetzen, oder ob die Frage zu klären ist, wer als „arisch“ oder „artverwandt“ eingestuft werden soll.

Und schließlich geht es um die ausnehmend engen Beziehungen der Türkei zu Deutschland, um den großen und noch heute spürbaren Einfluss der Exilanten auf die türkische Gesetzgebung und die Bemühungen der türkischen Regierung, ihre Neutralität trotz des wachsenden Drucks von außen zu wahren.

All das ist nicht unbedingt leichte Kost. Möckelmanns sachlich-trockene Prosa verzichtet darauf, den Leser zu umschmeicheln, sie beeindruckt durch Faktentreue, umfangreiche Recherchen und den etwas anderen Blick auf eine bereits ausführlich behandelte Zeitspanne: Mit seinem türkischen Blickwinkel fügt Möckelmann der Literatur zum Dritten Reich ein wichtiges Puzzleteil hinzu und setzt zudem Ernst Reuter, diesem klugen, nachdenklichen und aufrechten Mann, ein würdiges Denkmal.

Besprochen von Irene Binal

Reiner Möckelmann: Wartesaal Ankara – Ernst Reuter: Exil und Rückkehr nach Berlin
Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2013,
368 Seiten, 29 Euro.