Der Waffenschmied von Delitzsch

Von Steffen Lüddemann |
Der Waffenschmied von Delitzsch ist ein Waffennarr, der nicht schießwütig ist. Einer, der die Ost-West-Geschichte im ganz kleinen mitgeschrieben hat. Einer, der immer wusste, was er wollte, und gerade deshalb in den Jahren des Erwachsenwerdens in der DDR so seine Schwierigkeiten hatte. Einer, der gerne woanders ist und doch am liebsten zuhause. In dem kleinen Ort Delitzsch, zwanzig Kilometer von Leipzig entfernt.
Matthias Lüttich: "Ich selbst finde Schießen eigentlich ziemlich bescheuert. Also ich würde jedermann das Waffensammeln ermöglichen, soviel wie er haben will. Und sollte er einen scharfen Schuss besitzen, dann sollte man ihn öffentlich an 'n Pranger stellen auf 'm Markt. Das ist natürlich quatsch, nich. Aber ich mag halt diese Herumknallerei nicht! Es stinkt, der ganze Kerl riecht nach dem Schießen, es ist fürchterlicher Lärm und Geruchsbelästigung, und das mag ich überhaupt nicht. Und es kostet auch Kraft und ziemlich viel Geld."

Matthias Lüttich ist jetzt 50. Ein Mann mit der Statur eines Kugelstoßers: 1,95 groß, breitschultrig, massiv. Er ist Waffenbauer, Waffenhändler und Herr über ein anderthalb Hektar großes Areal am Stadtrand von Delitzsch, an dessen Tor ein Schild mit der Aufschrift hängt: "Academy. Internationales Waffenrecht und Waffentechnik". In der Umgebung verfallene Fabriken aus der Gründerzeit und leer stehende Lagerhallen. So sieht es in Delitzsch überall aus, viele Betriebe haben dicht gemacht. Jeder fünfte ist arbeitslos, junge Leute verlassen die Stadt.

"Was war hier früher mal?"

Matthias Lüttich: "Das war früher ein Großhandelskontor für den 'Waren täglicher Bedarf', der Butterkeller von Delitzsch. Da gucken wir uns doch gleich den Butterkeller an, was er heute macht ..."

In den verwinkelten Kellerräumen trainieren die Personenschützer Häuserkämpfe. Überall stehen Pappwände herum - sie sollen Mauern und Häuserfronten darstellen. Bei ihren Kämpfen tragen die Gotcha-Spieler Schutzkleidung und schießen mit Druckluftwaffen und Farbmunition aufeinander. Wer getroffen ist, hat verloren.

"Mein Vater, als Weltkriegsteilnehmer, der, wie meine väterlichen Freunde eigentlich alle, der Meinung waren: Nie wieder Waffen, und alle waren der Meinung, dass Waffen also ganz was Schlechtes sind - und alles, was verboten ist, lockt logischerweise. Ich fand - in meiner frühsten Kindheit wurde die NVA gebildet - ich fand die Soldaten immer so toll, die waren auch alle so freundlich und man durfte im SPW mal mitfahren und in 'n Kindergarten kamen die Soldaten und in die Schule kamen die Soldaten, und alles war irgendwo interessant. Und mit fünf Jahren habe ich mir das erste Mal aus Holz eine Pistole gebaut. Und mit sieben Jahren hatte ich schon eine sogenannte Klammerpistole, die richtig schießen konnte: aus einer Streichholzschachtel, einer Wäscheklammer mit'm Einweckgummi konnte man richtige Projektile verschießen. So ging das halt los, da war ich sieben. Und durch die 'Armeerundschau', da gab's Typenblätter, da fing ich dann an, aus Holz Modelle nachzubauen, und hab die dann an meine Freunde verkaupelt. Meine ersten Schlittschuhe und meine ersten vernünftigen Skier, die hab ich mir damit verdient."

"Ich war vor '61 in Westberlin, hab dort ein Waffengeschäft gesehen, und dieser Mann war wahnsinnig freundlich und hat mir Kaugummi geschenkt und einen Zündplätzchenrevolver. Und das war für mich - der war goldfarben mit elfenbeinfarbenem Griff! -, das war für mich das Größte. Und dass dieser Mann so extrem freundlich zu mir war, böse Zungen könnten behaupten: Siehste, siehste, der Klassenfeind ist dran schuld, der hat den armen Jungen versaut."

Als er 14 ist, bewirbt sich Matthias Lüttich im Suhler Jagdwaffenwerk "Ernst Thälmann", der einzigen Ausbildungsstätte für Waffenbauer in der DDR. Es gibt viele Bewerber auf wenige Lehrstellen.

"Ich hatte mich mit dem Halbjahreszeugnis der 8. Klasse in Suhl beworben, hatte zu diesem Zweck, weil ich beeindrucken wollte, eine französische Steinschlosspistole und eine Percussionsschlosspistole selbst hergestellt, voll funktionstüchtig! Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass ich das nicht darf, und hab das als Musterstücke da vorgelegt. Und die Herren waren sichtlich erschrocken und ich hatte ja mein ganzes schulisches Wohl und Wehe nur daran gehangen. Ich wollte unbedingt bei dem Herrn Berthold, das ist der Berufsschullehrer gewesen, bei dem wollte ich unbedingt lernen dürfen. Und heute, bei meinen Auslandsaufenthalten, hab ich immer wieder von Leuten, die wissend in der Branche sind, gehört: Hast du bei Berthold gelernt? Und ich muss dann heute immer noch verneinen und sagen: Nein, leider nicht. Ja, war ich 14."

Warum er nicht angenommen wird, erfährt Lüttich nicht. Nach der Ablehnung der Suhler Jagdwaffenwerke jedenfalls hat er das Interesse an der Schule verloren. Sein Zensurendurchschnitt pendelt zwischen 4 und 5. Nach Abschluss der neunten Klasse verlässt er die Schule. Sein Vater, der in Delitzsch eine Bäckerei betreibt, drängt ihn, die Familientradition weiterzuführen. Matthias Lüttich fügt sich - er wird Bäcker und Konditor.

"Ich hab's nicht bereut, dass ich die Berufe ergriffen habe, aber ich habe doch mein ganzes weiteres Leben dann voller Traurigkeit verbracht. Ich behaupte: Ich brauche ein Hemd, ich brauche 'ne Hose und ich brauche einmal am Tag was zu essen, am besten abends und eine kleine Kammer und ein Radio. Und ich hätte das für jedes Regime machen können, meine Entwicklungen."

Lüttichs Talent liegt brach. An das gewerbsmäßige Projektieren von Revolvern ist in der DDR nicht zu denken.

Mit Mitte 20 verlässt Lüttich die väterliche Bäckerei und zieht nach Leipzig. Er findet eine Anstellung in einem Lager für Rundfunk- und Fernsehgeräte.

"Ich hatte uff Arbeit sehr viel freie Zeit, weil, wir hatten die Fernseher zu verschieben, äh zu verkaufen im Bezirk Leipzig, wenn wir denn welche hatten und da bin ich den Schlossern, damals vom 'Rekobau' fürchterlich offs Schwein gegangen, weil ich immer irgendwelche Ideen hatte, die meistens natürlich nur mit so was zu tun hatten, und die hatten Material und die hatten ä Schmiedefeuer, alles das, was ich nicht hatte. Und die ham mir immer geholfen. Wenn die allerdings einen Fernseher brauchten, dann brauchten die sich nicht anzustellen im Laden, denen fuhr ich dann schon bis zu denen nach Hause vor die Tür, das war nicht das Problem, mussten natürlich auch bezahlen, ist klar. Da gab's schon tolle Sachen."

November 1989. Lüttich sieht endlich die Möglichkeit gekommen, sich seinen Lebenstraum zu verwirklichen. Gleich nach der Öffnung der Grenze verlässt er Ostdeutschland und geht nach Kempten im Allgäu. Er beginnt eine Lehre bei einem alten Waffenschmied. Nach einem Jahr hat Lüttich die Ausbildung abgeschlossen. Er ist jetzt 36 und endlich Waffenbauer. Er geht in seine Heimatstadt Delitzsch zurück und eröffnet im Zentrum der Stadt einen Waffenladen. Die Kunden betreten seinen Laden erst im Schutz der Dunkelheit, kurz vor Geschäftsschluss. Sie wollen nicht gesehen werden.

"Was draußen natürlich och in der Gesellschaft 'ne Rolle spielt, ist die Angst vor Schusswaffen. Ich verstehe erstmal jeden, der Angst vor 'ner Waffe hat. Und ich würde den auch nie dazu zwingen, mit 'ner Waffe Umgang zu haben."

Nach Feierabend entwickelt Lüttich in diesen Jahren seine ersten Revolver und lässt sie sich patentieren. 1996 bricht er dann erneut auf. Diesmal nach Amerika. Er geht nach Springfield, Massachusetts, und beginnt eine Ausbildung an der "Smith and Wesson Academy". Hier absolviert Lüttich eine Art Ingenieurstudium: Waffen- und Systemtechnik.

Zwei Jahre später kehrt er nach Delitzsch zurück. Von den Honoren für seine ersten in Serie gegangenen Revolver kauft er sich den alten "Butterkeller" - ein Areal mit einer Lagerhalle und einem zweigeschossigen Kontorgebäude.

Lüttich richtet Büros ein und einen neuen Waffenladen. In den Katakomben des "Butterkellers" entsteht ein Schießstand für seinen Schießclub "Viktoria".

Dieter Tröger ist der Waffenmeister des Schießclubs. Früher war er Berufssoldat, erst bei der NVA, dann bei der Bundeswehr.

"Wir haben 1.030 Mitglieder. Und schießen? Alles! Arbeitslose, Rentner, Anwälte, Doktoren, ein Europaabgeordneter in Brüssel ist bei uns Mitglied, wir haben viele verschiedene Nationen, einer vom MDR, ja. Und alle kommen schießen! Und alle begeistern sich daran."

Irgendwo in den Katakomben des "Butterkellers" befindet sich auch Lüttichs "Labor". Da komme niemand rein, sagt er, seine Frau wisse nicht mal, wo die Tür ist. In dem geheimen "Labor" entstehen in wochenlanger Arbeit Lüttichs Revolver. Waffen, mit denen er nur einmal zur Probe schießt, danach will er mit ihnen nichts mehr zu tun haben.

Matthias Lüttich: "Du hast 'ne Idee, die haste meistens nachts, und dann macht man eine Grobskizze, Freihand. Und diese Skizze heftet man sich an seine große Tafel, so dass man jedes Mal mit der Nase drauf stolpert, dass de gezwungen bist, immer drüber nachzudenken. Und wenn ich dann merke, ich bin auf'm richtigen Weg, dann werden die Teile aneinander gepasst, Fräsarbeiten, Bohren, klar. So, dann gibt's die entsprechenden Zulieferer, zum Beispiel 'Walter'- oder 'Heckler und Koch'-Läufe, die kannste dir bestellen, polygonal, halb polygonal, so wie des brauchst und immer aufs jeweilige Kaliber gleich zugehauen, das ist schon in Ordnung."

Lüttich ist gut im Geschäft. Das Waffengewerbe ist hoch profitabel. Die Nachfrage nach Schusswaffen - steigend. Über genaue Zahlen spricht Lüttich nicht - Betriebsgeheimnis.

"Wir machen Kleinserien, wenn überhaupt, bei den meisten Geschichten, da bin ich teilweise nur Ideengeber oder Vordenker und die Sachen werden praktisch bis zur Patentreife gemacht und dann nachher an große Firmen verkauft, wenn die Interesse dran haben - die Firma 'Hotchitome', 'Smith and Wesson', 'Power Ordonance' natürlich, darf man nicht vergessen, und viele, viele andere ... Es gibt och ein paar Sachen, wo man nicht drüber sprechen kann. Aber wir haben einen sehr engen Kontakt zur Firma 'Heckler und Koch'. Da gibt's schon tolle Sachen."

Zwei Dutzend Patente hat Lüttich bislang angemeldet. Aber er beschäftigt sich schon lange nicht mehr nur mit immer handlicher werdenden Revolvern.

"Der große Überbegriff wäre eigentlich Wehr- und Waffentechnik. Wenn ich eine Kamera zum Beispiel bei der Handfeuerwaffe bei einem Polizisten einbauen kann. Polizist, der ist in einer Gefahrensituation, hat einen Hohlspiegel in seiner Brille, kann den wie einen Monitor benutzen, zieht die Waffe, die Waffe schaltet automatisch die Kamera ein, er kann, aus der Deckung raus, die Waffe über Kopf halten, um die Ecke halten, kann sehn, was die Waffe sieht. Das macht uns alle etwas sicherer, glaube ich."

Lüttich wohnt auf einem stattlichen Anwesen in einem Dorf in der Dübener Heide, fünfzehn Kilometer von Delitzsch entfernt. Er mag die Landschaft dort, die Stille. Aber er ist viel unterwegs. Die Hälfte des Jahres hält er sich im Ausland auf - in Kanada, in den USA, in Brasilien und Belgien.

"Viele Sachen gehen in Deutschland gar nicht zu entwickeln."

Es sind monströse Geschichten, die Lüttich von seinen Reisen erzählt. Geschichten aus einer fremden, verborgenen Welt. Sie handeln von Geheimdiensten, von Militärs und Spezialeinheiten. Es geht um neuartige Waffensysteme und die Ausbildung von Soldaten, die in Kommandoaktionen irgendwo auf der Welt zum Einsatz kommen sollen. Geschichten, die so phantastisch klingen, dass sie schon wieder plausibel erscheinen.

Natürlich sind sie nicht zu überprüfen. Lüttich nennt keine Namen, keine konkreten Orte. Und er achtet peinlich darauf, dass das Mikrophon auch wirklich ausgeschaltet ist. Aber er hat Spaß an seinen Schilderungen von gestählten Männern, die in einem immerwährenden harten Kampf stehen.

"Was uns Menschen ausmacht, was alles Leben ausmacht, das ist, wenn man das bei Lichte betrachtet, die Gewalt. Waffen und Gewalt gehören nicht zwangsläufig zusammen, aber die Grundintention bei Waffen ist natürlich, dass Waffen in erster Linie zum Töten gedacht sind. Ich selber lehne Töten wie jeder andere kulturvolle Mensch ab, hab aber die Möglichkeit für mich, dass ich wehrbar sein will. Ich will also in einer Zwangssituation entscheiden können, ob ich für mich, die Meinen, mein Land eintreten kann oder nicht."

Zurzeit beschäftigt sich Lüttich mit Einzelanfertigungen: Revolver, die er passgenau für einen Schützen herstellt. Handarbeit. Lebenslange Garantie. Was das kostet? Lüttich lacht: Da gäbe es keinen Katalogpreis. Das sei etwas für Liebhaber. Kunststücke eben. Der Kunde zahlt, was ihm der Revolver wert ist.

"Wenn ich Charles Walter geheißen hätte, dann hätte ich vielleicht 20, 25 Millionen, und ob da von mir irgendwann mal was in solchen Stückzahlen gebaut wird, das wage ich zu bezweifeln, so 'n toller Mensch bin ich auch nicht, so 'n genialer Erfinder. Wenn ich etwas hätte erfinden wollen, dann wären es drei Sachen: den Reißverschluss hätte ich gerne erfunden, das Taschenmesser hätte ich gerne erfunden und die Thermoskanne."

Nach unserem Gespräch wird Lüttich nach Adminton in Kanada fliegen und Vorträge über Waffensysteme halten. Seine Zuhörer: Militärs und Männer aus Spezialkommandos. Er erzählt, dass er nicht mit einer Linienmaschine fliegen wird, sondern mit einem Flugzeug der amerikanischen Luftwaffe, von Ramstein aus. In drei Monaten sei er dann wieder zurück in Delitzsch.