Der Vorläufer der Popart

Von Oliver Seppelfricke · 23.02.2008
Bereits in den 50er Jahren verarbeiteten europäische Künstler Teile aus Trivialliteratur, Pin-ups und Werbematerial zu Popart-Collagen. Amerikanische Kollegen wie Andy Warhol und Roy Lichtenstein knüpften daran an. Die Schau "Europop" in Zürich ist der Geburtsstunde der Popart gewidmet. Gleichzeitig werden in Stuttgart klassische "Popartportraits" aus den USA gezeigt.
Erró, Öyvind Fahlström oder Domenico Gnoli?! Solche Namen sind unter den gut 30 im Züricher Kunsthaus ausgestellten Künstlern in der Schau "Europop" sicherlich erst wieder einmal zu entdecken. Neben den "Großen" Hamilton, Hockney oder Rotella. Sie alle aber zeigen mit gut 80 Werken, dass die große amerikanische Pop Art einen Vorläufer hatte: die Bewegung "Europop".

Tobia Bezzola, der Kurator der Züricher Schau: "Pop ist nicht allein eine amerikanische Angelegenheit. Sondern es ist historisch sogar so, dass zum ersten Mal Künstler den Ausdruck verwenden und dass Künstler eben die Produkte der Massenkultur, der Werbung, des Films als Ausgangsmaterial für ihre Bilder verwenden. Und das geschieht in England Mitte der fünfziger Jahre."

Und eigentlich begann es noch früher: Mit den GI´s kamen auch populäre Kulturgüter aus den USA nach Europa: Trivialliteratur, Pin-ups, Coca-Cola und vor allem Werbematerial. Riesige Filmplakate, Anzeigen in Illustrierten, die für die neuen Technologien wie Staubsauger oder Küchenmixer warben – das alles war ein gefundenes Fressen für die europäischen Künstler, die in den kargen Jahre nach dem Krieg begierig alles aufsogen aus Mangel an Material nicht aus Mangel an Ideen.

Die Collage kannten sie schon seit den Dadaisten und Max Ernst. Und schnell wurden die neuen Einflüsse in mit diesen traditionellen Techniken verarbeitet. In Bildern wie bei Richard Hamilton, wo ein fast nackter Collegeboy eine Tennisschlägerhülle mit der Aufschrift "POP" vor sein Geschlecht hält, im Hintergrund räkelt sich eine nackte Frau unter einer Lockenwicklerhaube auf einem der neuen Sofas, die damals entworfen und beworben wurden, der Fernseher läuft, der Staubsauger auch, durch das Fenster sieht man auf ein Kinoplakat, und das alles ist wie in einem Puzzle montiert. Lauter Einzelteile. "Pop" eben:

"1955 ist dann die Independent Group, Paolozzi, Hamilton in London tätig mit einer Ausstellung, wo zum ersten Mal auch der Ausdruck verwendet wird: "Pop Art". Wobei die damit das Quellenmaterial meinen. Für sie ist das Volkskunst. Naive, triviale, amerikanische, exotische Volkskunst. Micky Maus und Lucky Strike und Humphrey Bogart und Marilyn Monroe. Und sie haben Freude daran."

Superman und Comics, Werbefetzen und Pin-ups bevölkern bald, sehr zum Ärger des Publikums und der alteingesessenen Kritik, die Bilder von Paris bis Düsseldorf oder Mailand, mal in ironisch-subversiver Absicht, mal als provokante Auseinandersetzung mit der Massenkultur der Plakatwände und Hochglanzmagazine. Die eine neue, heile Welt versprechen. Darüber machte sich der europäische Pop nicht nur lustig, sondern er machte sich ernsthafte Gedanken. Wohin führt das alles? Und seine Antworten waren: Seht her, das ist eine riesige Werbemaschine in einer "Gesellschaft des Spektakels", der Beginn dessen, was man später die "Freizeitgesellschaft" nannte. Und der Anfang der Mediengesellschaft. Und: Es ist der erste Höhepunkt der Konsumkultur. Das alles nahm Europop ironisch vor die Flinte und schoß mit den Mitteln des Gegners. Mit Persiflage und mit Persilwerbung...

Und worin unterscheidet sich nun "Europop" von der amerikanischen Popart?

Tobia Bezzola: "Das ist die interessante Frage. Wenn man es anschaut, wird eher die Verschränkung klar. "Europop" soll eher darauf hinweisen, dass der amerikanische Pop auch aus europäischem sich nährt, der ganze ästhetische Zugriff auf solche Materialien, das ist natürlich die europäische Kunstgeschichte. Protopop finden Sie schon bei Duchamp, bei Schwitters, bei Picabia in einer gewissen Weise. Und die Amerikaner, wie sie halt sind, machen das dann einfach schriller, größer, lauter, frecher. Ab 1960 etwa. Die kennen das schon. Es ist ein Austausch. So wie die Europäer auf die amerikanische Popkultur reagieren, reagieren die USA dann auf die europäische Pop Art. Also auf den Umgang europäischer Kunst mit diesem Material. Diese Verzahnung ist das Interessante. Das ist neu!"

Und das kann man nun glänzend in der Staatsgalerie Stuttgart in Augenschein nehmen. Dort sind unter dem Titel "Popartportraits" viele jener großen Werke ausgestellt, die wir gemeinhin mit Pop Art assoziieren. Also die Marilyns von Warhol, die Comicfiguren und -sprechblasen Roy Lichtensteins oder die "großen amerikanischen Nackten" von Tom Wesselman.

Hier in dieser Schau geht es vor allem um das Menschenbild. Das Porträt eben. Und da kann man die riesigen Siebdruckserien von Elvis, Marilyn oder Liz Taylor sehen und verstehen, wie man will: als Kritik an der Verdinglichung der Menschen durch die neuen Massenmedien Fernsehen und Film, in denen das authentische Bild der Personen und damit deren Identität quasi verloren geht. Oder aber als "Ikonen der Schönheit" für einen wie Warhol, der sagte, "everything´s pretty". Auch Paul Moorhouse von der Londoner National Portrait Gallery, von der die Stuttgarter Ausstellung im wesentlichen übernommen ist, sieht diesen Zwiespalt:

"Man sieht in dieser Ausstellung die beginnende Faszination von Berühmtheit. Die beginnende Faszination von Ruhm. Das wachsende Bewußtsein dessen, was damit verbunden ist, wenn Menschen in den Medien dem Blick von Millionen ausgesetzt sind. Wenn Menschen nicht länger privat sein können. Sondern öffentliche Bilder werden. Verfügbar für jeden. Das ist ein Thema, das die Popartkünstler in den 1960er Jahren obsessiv beschäftigte. Und es ist ein Thema, das auch in unserer heutigen Zeit sehr aktuell ist. Berühmtheiten, die berühmt sind, für was? Nur dafür, berühmt zu sein."

Popart war die erste echte künstlerische Gemeinsamkeit zwischen Europa und den USA. Eine erste transatlantische Kunst. Und doch gibt es einen großen Unterschied. Wenn man heute auf diese Kunstrichtung der 50er und 60er Jahre zurückblickt.

Tobia Bezzola vom Kunsthaus Zürich: "Interessant ist, dass kaum ein Europäer bei Pop geblieben ist. Indiana, Lichtenstein, Warhol, die machen einmal Pop und immer Pop. Polke, Richter, Pistoletto, viele andere Künstler, Franz Gertzsch, die kennen wir auch. Aber Pop? Die haben auch Pop gemacht. Die haben in ihrer Frühzeit auf Pop reagiert und eben diese Popeinflussbilder sind ein Teil ihrer künstlerischen Entwicklungsgeschichte."

"Europop" war leiser, differenzierter, inhaltlich und formal komplexer, weniger marktschreierisch als das US-Pendant. Beide Bewegungen zeigen, dass die Kunst im Zeitalter der Massenmedien begriffen hat, dass der Mensch nicht mehr als sein Bild von ihm ist. Ob Andy Warhol das kritisch gemeint hat, als er zehnmal Liz Taylor oder unzählige Male Marilyn Monroe druckte? Ob er auf das Verschwinden der Individualität im Zeitalter der Reproduzierbarkeit anspielen wollte? In Stuttgart findet man Antworten!