Der Versuch einer sexuellen Befreiung

Von Katharina Döbler · 06.09.2006
In dem Roman "Das Berührungsverbot" – erstmals 1970 erschienen – widmete sich Gisela Elsner einem Modethema der damaligen Zeit: der sexuellen Befreiung. Um der Spießigkeit ihres Lebens zu entfliehen, flüchten sich mehrere bekannte Paare in den Gruppensex. Doch der Ausbruch wird zur Gewalttat.
Gisela Elsner, geboren 1937, galt als Skandalschriftstellerin. Sie lebte gern auf großem Fuß, war DKP-Mitglied und wohl das, was man eine Salonkommunistin nennt. In ihren Büchern war sie stets eine scharfe Beobachterin und bissige Kommentatorin bürgerlicher Lebensweisen. 1992 nahm sie sich das Leben. Als ihr Sohn Oskar Roehler 1999 den Film "Die Unberührbare" über die letzten Jahre seiner Mutter drehte, begann zwar keine Renaissance, doch wurden ihre Werke wieder verlegt.

Sie sei ein "Humorist des Monströsen" sagte Enzensberger damals von ihr – und monströs sind ihre Figuren in der Tat. Sie agieren nach außen unauffällig als brave Familienväter und verlässliche Angestellte. Doch in Elsners Büchern tun sich Abgründe alltäglichen Grauens auf: Familie, das ist die Hölle. Diese Hölle beschrieb sie 1964. In ihrem ersten Roman, den der Verbrecher Verlag – eine sehr gute Adresse für literarische Außenseiter – vor vier Jahren neu herausgebracht hat. Mit "Das Berührungsverbot" von 1970 ist nun ein weiterer Elsner-Roman wiederverlegt worden. In diesem geht es gleich um mehrere Familien im Zustand der Dekadenz. Das ist die noch größere und, gewissermaßen, noch heißere Hölle. Eine Clique alter Freunde, die nach und nach heiraten, Kinder bekommen und an ihrer Karriere basteln, gehen von ihren regelmäßigen Saufabenden und Familieneinladungen irgendwann zu gemeinsamem Gruppensex über.

Wie gierig und gehemmt es dabei zugeht, wie lustlos, wie kunst- und fantasielos, und - vor allem - wie lieblos hier Sexualität gelebt wird, beschreibt Elsner mit ätzender, karikaturesker Schärfe. Ihre Figuren sind sämtlich unangenehme Menschen, die sich selbst kaum in die Augen zu schauen wagen, und in verschiedenen Zuständen der Demütigung leben. Bei dem Einen sind es die übermächtigen Eltern, bei der Anderen die vermeintliche Schande kleinbürgerlicher Herkunft, dem Einen fehlt die berufliche Anerkennung, der Anderen die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aber Letzteres betrifft nicht nur die gegängelten Ehefrauen. Irgendetwas hindert sie alle an einem souveränen Leben.

Elsners Erzählansatz ist durchaus denunziatorisch, aber nicht im Sinne einer linken oder feministischen Ideologie. Ihre Haltung ist eher die einer Rebellin wider die Konvention, die jeden Schein auf seinen Seinsgehalt hin untersucht. Es sollte niemanden wundern, dass solch nahes Hinsehen direkt in einen literarischen Angriff mündet: auf gesellschaftliche Heuchelei ebenso wie auf die Unehrlichkeit vor sich selbst. Und das ist es, was dieses Buch, trotz mancher deutlich zeitgebundenen Formalien, so schmerzhaft lebensnah macht.

Gisela Elsner:
Das Berührungsverbot.

Verbrecher Verlag, Berlin 2006
(erstmals erschienen 1970)
gebundene Ausgabe, 124 Seiten, 13 Euro