Der Verlust der eigenen Vergangenheit

Von Kersten Knipp · 17.11.2009
Viele Leihgeber befürchten, mit dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs einen Teil ihrer persönlichen, in Dokumenten fixierten Geschichte verloren zu haben. Sie wollen vor Gericht ein Schuldbekenntnis der Stadt Köln bewirken.
Als im März dieses Jahres das Kölner Stadtarchiv einbrach, verlor die Stadt Köln ihr Gedächtnis. Aber auch viele Privatpersonen verloren einen Teil ihrer persönlichen, in den Dokumenten aufbewahrten Geschichte – einer Geschichte, die sich bisweilen mit der der Stadt überschneidet. So etwa diejenige der Familie Wittgenstein, die in dem Prozess von dem Anwalt Louis Peters vertreten wird. Dessen Klienten geht es vor allem um eines:

"Insbesondere den ideellen Verlust. Also wenn Sie zum Beispiel die Familie von Wittgenstein nehmen, 450 Jahre Familienchronik, die Familie hat immer an der Spitze der Stadt Köln gestanden, (…) wichtigste Dokumente. Es ist ja auch nicht so, die haben ja nicht ihre Unterlagen der Stadt Köln aufoktroyiert und haben gesagt, hier, passt mal darauf auf, ich habe zu Hause keinen Platz. Sondern es war ja umgekehrt, die Stadt Köln wollte immer unbedingt deren Dokumente haben, weil die so unersetzlich sind."

Das hat die Schriftstellerin Anne Dorn, Jahrgang 1925, erfahren müssen. Sie hat dem Archiv einen großen Teil ihres Werkes überlassen. Nun ist es weg. Für Anne Dorn eine zunächst kaum zu verarbeitende Erfahrung:

"Ich muss sagen, ich hatte also wirklich einen ganz echten Schock. Also richtig mit Schüttelfrost, Nasenbluten und was weiß ich, weil ich gedacht habe, das kann doch eigentlich nicht sein. Ich habe es im Radio gehört, und dann habe ich den Fernseher angemacht. Und dann muss ich sagen, da war das noch abstrakter. Ich konnte, was ich gesehen habe, konnte ich einfach nicht für wahr halten. Da sah man nämlich die ganze Severinstraße, und dann genau so, als ob oben aus Himmelshöhe eine Riesenfaust zugegriffen hätte und haargenau das historische Archiv herausgegriffen und zertrümmert. Und rechts und links noch zwei halbe Häuser mit."

Hätte die Stadt sorgsamer mit den Leihgaben umgehen können? Ja, meint Rechtsanwalt Peters. Auf warnende Hinweise wie schleifende Türen im Gebäude, wiederholtes Zittern und mehrere Rohrbrüche habe man nicht reagiert. Vor allem aber habe es keinen Notfallplan gegeben. Die aus dem Wasser geretteten Bestände seien in knapp 20 verschiedene Archive gebracht worden, und zwar ohne jede Erfassung der Papiere. Auch die Folgen dieser Sorglosigkeit bekommen die Leihgeber nun zu spüren. Rechtsanwalt Peters:

"Es sind aber keine Listen geführt worden, was wohin gekommen ist. Das heißt, acht Monate nach dem Einsturz kann keinem einzigen Leihgeber gesagt werden, erstens: Was ist von dir erhalten geblieben, was ist zerstört? Zweitens, wir wissen überhaupt nicht, wo dein Zeug ist. Das muss man sich mal vorstellen. So schlecht ist nirgendwo ein Archiv in der Welt organisiert wie in Köln am Rhein."

Vieles wurde verspielt. Und damit auch Vertrauen enttäuscht. Anne Dorn etwa überließ dem Archiv Material, das auch ihr ganz persönliches Leben spiegelt – die Jahre etwa, in denen es schriftstellerisch sehr schwierig zuging:

"Das sind einmal abgeschlossene Sachen, die aber meistens dann in vielen Variationen bestehen. Zum Beispiel denke ich da mal an meinen Roman 'Hüben und drüben'. Da habe ich neun Jahre auf einen Verlag gewartet, und in den neun Jahren ruht eine Sache ja nicht, das ist wie ein ungeborenes Kind, das entwickelt sich immer weiter. Und dann gibt es viele Variationen, die zum Teil sehr interessant sind."

Die Verluste kann der Prozess nicht rückgängig machen. Aber er kann zumindest eines, erläutert Rechtsanwalt Peters: Er kann die Verantwortung für das Unglück und die daraus entstandenen Schäden klären.

"Einmal will ich ein Schuldanerkenntnis erreichen, dass also die Stadt erklärt, wir stehen für den Schaden gerade. Wie hoch der Schaden ist, weiß ja noch keiner, weil die Stadt nicht sagen kann, was weg ist und was nicht weg. Zum Zweiten: Aufgrund dieses Durcheinanders haben die Leihgeber ihre Leihverträge gekündigt und haben gesagt, wir wollen alles heraushaben. Das ist die einzige Chance, um festzustellen, was da ist und was nicht da ist. Denn werde ich nur vertröstet, wir wissen nicht, wo es ist, dann kann ich noch viele Jahre warten."

Worauf die Leihgeber warten, weiß Anne Dorn sehr gut. Unter ihren Leihgaben ist Vieles, was auf das engste mit ihrem Leben und ihrer Arbeit zusammenhängt.

"Und dann zum Beispiel dokumentarische Sachen, von denen man wusste, die kriege ich niemals wieder. Ich habe zum Beispiel Anfang der 70er-Jahre mit dem Komponisten Luc Ferrari aus Paris und dem Objektebauer Hingsmartin habe ich zweimal ein Multimedia-Projekt gemacht. Und das war so unglaublich faszinierend für uns selber und auch für die Menschen, die es gesehen und genutzt haben. … Briefe, die wir uns selber hin- und hergeschrieben haben. Oder auch Entwürfe. … Da hat man begonnen, in einen Seitenweg einzutreten … und vielleicht möchte man gerne noch mal dahin. Also gibt man das dahin, wo man glaubt, dass es sicher ist."