Der verhüllte Marx

Von Martin Reischke · 05.05.2008
Der überdimensionale Kopf des Philosophen Karl Marx ist in Chemnitz auch 18 Jahre nach der Wiedervereinigung noch das beliebteste Fotomotiv der Stadt. Zwar passt der " Nischel" nicht so recht in das Bild der "Stadt der Moderne", doch von Abriss spricht niemand. Nun wird das Monument vorübergehend verhüllt.
Ganz leicht rollen die Jugendlichen mit ihren Skateboards über den Granit. Sie starten in der Sonne, dann verschwinden sie für einen Moment im langen Schatten der riesigen Büste, die über ihren Köpfen thront. Karl Marx bleibt ungerührt.

"Ist ein cooler Trainingsort, sage ich mal und so halt ein Treffpunkt, ein allgemeiner, jeder kennt…, wenn du sagst Kopf, dann ist immer schon klar, wo man sich trifft, und braucht keiner fragen wo es ist, sieht man ja auch, ist ja direkt in der Stadt das Ding."

"Er hat diese absolute Einzigartigkeit, es gibt also wirklich in der ganzen Welt, in Europa, gibt es nirgendwo eine vergleichbare Skulptur, so einen großen Kopf."

"Ich sehe das Ding jeden Tag, fast jeden Tag, und irgendwie, das ist halt so, genau wie die Berliner jeden Tag den Fernsehturm oder das Brandenburger Tor sehen, so ist es bei uns."

"Der Marx ist einfach aus dieser Stadt nicht wegzudenken, es wäre …, man hat richtig das Gefühl, sie würde auf eine eigenartige Weise gesichtslos werden, wenn sie das Denkmal verlöre, es hat sich so reingefressen in das Bewusstsein oder in den Charakter wie ne alte Falte im Gesicht, die gehört einfach unabdingbar dazu."

Das zeigte sich zuletzt wieder im vergangenen Jahr, als ein litauischer Künstler das riesige Monument im Herzen der Stadt für die "skulptur projekte"-Ausstellung nach Münster holen wollte. Doch die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig fühlte sich überrumpelt – und wollte Marx nicht hergeben.

"Also man hätte sie in Einzelteile zerlegen müssen, dann wieder zusammenschweißen, wieder auseinanderschweißen, um sie wieder zusammenzuschweißen. Wie dann hinterher Patina einer Skulptur, die also für den öffentlichen Raum geschaffen ist, aussieht, die viele Jahrzehnte alt ist, kann jeder, der ein bisschen Empathie und Ahnung hat für Kunst, nachvollziehen."

So blieb Karl Marx der Umzug ins Münsterland erspart. Eine Entscheidung, die Ludwig in der Stadt viel Sympathie bescherte: Denn zahlreiche Chemnitzer unterstützten die Standfestigkeit ihrer Stadtchefin. Nur ein paar Kunst- und Designstudenten aus Schneeberg und Linz standen nun mit leeren Händen da. Sie hatten fest mit der Ausleihe der Bronzebüste gerechnet – und den leeren Sockel dann künstlerisch bespielen wollen. Das ging nun nicht mehr.

"Das heißt, der Karl-Marx-Kopf blieb da, der Sockel war besetzt und wir haben uns dann überlegt: Okay, was machen wir mit dem Kopf auf dem Sockel, und dann sind wir eben darauf gekommen, dass wir gerne ein großes Projekt machen würden, wo wir den Karl Marx-Kopf einhausen."

Das klingt nach einem neuen Verhüllungsspektakel. Doch die Idee habe mit Großprojekten im Sinne Christos wenig zu tun, sagt Designstudentin Friederike Hofmann von der Fachhochschule im sächsischen Schneeberg.

"Dann wäre er ja einfach nur weg gewesen, aber wir wollen ihn ja nicht weghaben, wir wollen ihn ja neu dahaben, wir wollen ihn anders da haben, und das war ja die Sache, dass wir ihm nicht einfach ein Tuch über den Kopf geworfen haben, sondern es soll ja auch wirklich was damit geschehen."

Deshalb wollen ihm die Studenten einen riesigen weißen Kubus überstülpen und ihn so aus dem Kontext der Stadt herausreißen. So können sich die Bürger mit ihrem symbolträchtigen Denkmal neu beschäftigen, meint Mathias Lindner von der Neuen Sächsischen Galerie in Chemnitz. Gemeinsam mit den Studenten hat er das Projekt entwickelt – und dabei eine interessante Entdeckung gemacht.

"Was uns und den Studierenden damals aufgefallen ist, war, dass der Marx als Denker, als Philosoph, als Schriftsteller im Denken über dieses Denkmal und im Nachdenken über das, was es vielleicht auch sein könnte so gut wie gar keine Rolle spielt."

Diese neue Perspektive soll die Einhausung ermöglichen. Und seit zwei Wochen beginnt die Vision zu wachsen. Anfang Juni schließlich sollen die Aufbauarbeiten beendet sein. Knapp drei Monate lang kann das Monument dann in der neuen Umgebung besichtigt werden.

"Diesen Raum muss man sich vorstellen als eine Gerüstkonstruktion, die innen und außen jeweils mit einem weißen Stoff bespannt ist, der relativ gut lichtdurchlässig ist, der also optisch die Stadt draußen lässt, sie aber durch Licht und Geräusche trotzdem präsent lässt, vor allen Dingen eben das Licht, dass der Raum wirklich trotzdem hell bleibt, aber zu sehen ist nur der Kopf."

Im Innern des Kubus führt eine Treppe auf ein Podest in sechs Meter Höhe, eine weitere Treppe bringt den Besucher auf das begehbare Dach der Konstruktion. Im direkten Blickkontakt mit Karl Marx – eine aufregende Vorstellung für die Chemnitzer Kulturbürgermeisterin Heidemarie Lüth von der Linkspartei.

"Man kann demzufolge mal Marx richtig ins Auge blicken und kann auch mal an seinem Ohr lauschen und dieser enge Zusammenhang zu ihm, ich glaube das ist etwas, was sich Leute vielleicht auch schon mal gewünscht haben, und insofern haben wir gesagt: Das unterstützen wir, weil Marx, es gab mehrere Umfragen hier in der Stadt seit 1990, ob der, der heißt hier ja der Nischel, ob der Nischel weg soll, und immer gab es Mehrheiten dafür, der Nischel gehört hierher nach Chemnitz, und da bleibt er auch – und insofern denke ich, ist es auch mal wichtig, sich mit ihm mal auseinanderzusetzen."

Das finden offenbar auch die vielen großen und kleinen Firmen, die das Projekt vor allem mit Sachleistungen und Know-how unterstützen, die Stadt selbst fördert die Einhausung mit 10.000 Euro.

Die Einhausung ist eigentlich nur der Abschluss des Projektes, das schon vor Jahresfrist begann. Um herauszufinden, was Karl Marx den Chemnitzern heute noch bedeutet, hat die Gruppe um Mathias Lindner im vergangenen Sommer die Aktion "Gebt uns euer Kapital" gestartet: Vor dem Kulturkaufhaus Tietz richteten die Studenten eine so genannte Kapitalsammelstelle ein, wo die Chemnitzer ihre Ausgaben des Marxschen Hauptwerks abgeben konnten. So sammelten sie am Ende mehr als 30 Bände – und kamen mit den Chemnitzern ins Gespräch.

"Manche haben ganz rührende Geschichten erzählt, denen sind dann wirklich die Tränen gekommen und haben irgendwie von damals erzählt, wie sie quasi darunter gelitten haben noch unter dem System, ne ältere Frau war da und hat uns ihr Kapital in Minibuchausgabe gezeigt, das hatte sie in einer Tüte und dann noch in ein Taschentuch eingewickelt und hat das wie ihren Schatz irgendwie behandelt, für sie war das eben, sie verbindet damit was und sagt, sie hat da irgendwie 40 Jahre mit gelebt und kann das und will das auch gar nicht auslöschen."

So könnte das Kunstprojekt in Chemnitz am Ende zu einer Entdeckung für alle Beteiligten werden: Denn weil die Studenten eine neue Sicht auf das Monument ermöglichen wollen, fällt der weiße Kubus ziemlich aus dem Rahmen. Vorne leicht angehoben und ein wenig verdreht hebt er sich ab von den rechten Winkeln der Gebäude, die den Stadtraum in der unmittelbaren Umgebung bestimmen.

"Also es hat ja auch so ein bisschen was von: man guckt irgendwo drunter, man entdeckt irgendwas, da hat es natürlich auch was von: So ein bisschen dieses Entdeckertum und ich will jetzt das aber wissen, was da drinnen ist."

Zum Beispiel die Baugeschichte des Denkmals. Ursprünglich war vorgesehen, das Monument figürlich zu errichten. Doch auch der Perspektive des Betrachters hätte Karl Marx einen winzigen Kopf, aber riesige Füße gehabt. Also entschied sich der russische Bildhauer Lew Kerbel für eine Büste. Der frühere Stadtarchitekt Karl-Joachim Beuchel hat sich die Erklärung des Künstlers notiert.

"Karl Marx stellt eine große Idee dar, die Idee des sich befreienden Proletariats, Karl Marx ist unser Kopf, unsere Gedanken, die zusammengefasst sind in unserer Entwicklung – er hat also gemeint: Karl Marx und der Marxismus braucht keine Hände und keine Füße, sondern ist im Kopf entstanden, und das muss auch sinnbildlich in dem Karl-Marx-Monument zum Ausdruck kommen."

Da es in der DDR keine geeignete Kunstgießerei gab, übernahm ein Betrieb in Leningrad die Aufgabe, die riesige Skulptur herzustellen. Am 9. Oktober 1971 wurde das Monument schließlich enthüllt, erzählt Beuchel unter dem Lärm der vorbeifahrenden Autos.

"Es standen hier beiderseits Tribünen auf dieser Grünfläche, auch hier auf dieser Plattenfläche, wo die Repräsentanten sich dem Volke zur Schau stellten, und hier auf dieser Straßenseite, teilweise auch auf der Grünfläche stand dann das Publikum, man sprach von etwa 150.000 Menschen, die zur Enthüllung hier hergekommen waren … und ich stand auch hier drüben unter der Menschenmenge und habe diesem Staatsakt zugeschaut, haha."

In den Jahren danach diente das Monument als willkommene Kulisse für die Aufmärsche und Festzüge in der DDR. Im Hintergrund das riesige Parteigebäude der SED-Bezirksleitung mit einer Tafel aus Aluminium, darauf die berühmten Worte: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!". Auf der breiten Straße vor dem Monument Fähnchen schwenkende Menschen.

Doch im Herbst 1989 wandelt sich das Bild. Nun wird das Denkmal plötzlich zum Sammelpunkt der Reformer; unter den Augen von Karl Marx starten hier die Montagsdemos der Stadt.

"Motivgeschichtlich wird sozusagen aus so einem Herrscherstandbild wird plötzlich so etwas wie eine Schutzmantelmadonna, unter der sich alle versammeln können, also ein Bildobjekt wird komplett umgedeutet, das ist total interessant, und dass man das schafft, die alte Bedeutung völlig wegzudrücken innerhalb von Tagen genau genommen, das spielt aber natürlich im Bewusstsein der Chemnitzer eine ganz große Rolle, weil man gezeigt hat, dass man ein Denkmal umdeuten kann, wenn man genug Inhalt hat, das man in es hineinpacken kann. Und ich denke, diese interessante Bewegung hat unter anderem auch dazu geführt, dass man nicht so leichtfertig gesagt hat: Weg mit dem Ding."

Das Karl-Marx-Monument überdauert die Wende. Der Name der Stadt nicht. Für Barbara Ludwig eine logische Entwicklung.

"Ich bin froh, dass ich 1990 gefragt worden bin, als Einwohnerin, als Karl-Marx-Städterin, Wie soll deine Stadt in Zukunft heißen?, und für mich war klar: Ich möchte, dass diese Stadt wieder so heißt, wie sie über 800 Jahre gehießen hat und wir haben ja auch den Fluss nicht umbenannt, die Stadt ist ja benannt nach einem Fluss, nach der Chemnitz, und der heißt ja glücklicherweise auch nicht Karl-Marx-Stadt-Fluss, so weit hat man’s dann nicht getrieben, nein, also es ist so in Ordnung wie es ist, und wir haben damit eigentlich kaum Probleme, außer dass es eben im Stadtmarketing zum Beispiel schwieriger ist."

Denn wofür steht ein Ort, der fast 40 Jahre lang den Namen Karl-Marx-Stadt trug – obwohl der berühmte Denker nie einen Fuß in die Stadt setzte? Als Geschäftsführer der City Management und Tourismus Chemnitz GmbH beschäftigt sich Michael Quast beruflich mit dem Image der Stadt.

"Und ich bin bei meiner Ist-Analyse, bei meinen Untersuchungen eben auf einen Begriff gestoßen, das ist die "Stadt der Moderne", den ich sehr, sehr treffend finde. Chemnitz ist in der Breite sehr, sehr gut aufgestellt, wir haben sehr viel Kultur, wir haben Museen, wir haben eine schöne Robert-Schumann-Philharmonie, wir haben ein Opernhaus, Architektur, Industriekultur, und kennzeichnend dafür ist die Modernität, die da zum Ausdruck kommt."

Doch der neue Leitspruch "Stadt der Moderne" ist nicht unumstritten. Auf der Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal für Chemnitz graben manche Leute lieber tief in der Vergangenheit. Ronny Rößler glaubt längst zu wissen, wie er seine Stadt nach vorne bringen könnte. Der Leiter des Naturkundemuseums steht vor den imposantesten Exponaten seiner Sammlung.

"… und der da vorn, das ist der größte, der bis jetzt gefunden wurde, der wurde im November 1900 entdeckt am Sonnenberg, wiegt allein 12,5 Tonnen, ist 8 Meter hoch und das war ein vorzeitlicher Nadelbaumverwandter …"

Was Rößler zu seinem Fundus zählt, ist eine paläontologische Rarität: Immer wieder werden in Chemnitz versteinerte Baumstämme ausgegraben, die ein Vulkanausbruch vor etwa 290 Millionen Jahren konserviert hat. Die schönsten und größten sind öffentlich ausgestellt – doch im Foyer des Kulturkaufhauses Tietz fristen sie bisher trotzdem eher ein Schattendasein. Für André Donath ein unerträglicher Zustand. Deshalb hat er zusammen mit drei Freunden die "Initiative Waldspaziergang" gegründet.

"Unsere Version ist wirklich was Einmaliges, was Spektakuläres zu machen und wirklich die Weltöffentlichkeit halt auf Chemnitz zu lenken – also in aller Bescheidenheit: Wir wollen das achte Weltwunder für Chemnitz."

Die Vision: Auf einem alten Bahngelände im Nordosten der Stadt soll der urzeitliche Schatz nicht nur ausgegraben, sondern auch wieder aufgerichtet werden – ein versteinerter Wald, verwandelt in einen begehbaren Freizeitpark. Doch das alles ist noch Zukunftsmusik. Allerdings wird seit ein paar Wochen im Auftrag des Naturkundemuseums auf einem kleinen Grundstück der Stadt schon einmal gegraben – probeweise.

"Und wenn dort natürlich jetzt entsprechend was gefunden wird, denke ich, steigt natürlich auch die Möglichkeit, dass unsere Vision dann halt wieder noch mehr Interesse halt findet und dass immer mehr Leute davon überzeugt sind, dass so was umgesetzt werden kann."

Für die Chemnitzer sind die versteinerten Bäume unterdessen längst Alltag. Jochen Walther wohnt nur wenige Meter von der neuen Grabungsstätte entfernt. In seinem Garten hinter dem Haus findet er schon seit Jahren immer wieder steinerne Zeugen der Erdgeschichte.

"Dadurch, dass das nun vor der kurzen Zeit jetzt so ein bisschen sagen wir mal na nicht hochgespielt ist vielleicht das falsche Wort, aber so ein bisschen mehr Beachtung geschenkt wird, dadurch kommt man selber auch ein bisschen mehr mit Beachtung da drauf, vorneweg hielt sich das sicherlich in Grenzen, wir kennen die Dinger, aber dass das so ne Attraktion ist, das hat man sicher nicht so intus gehabt."

Damit aber nicht nur die Chemnitzer selbst, sondern auch die Touristen endlich verstehen, dass die Stadt in ihrem Boden eine urzeitliche Rarität von Weltrang verbirgt, soll der steinerne Wald möglichst bald auch als Weltnaturerbe angemeldet werden. Ein Stadtratsbeschluss von 2006 unterstützt das Vorhaben, auch wenn sich Museumsleiter Rößler auf keinen genauen Zeitplan festlegen will.

"Es ist also ein langer Weg, der gegangen wird, aber das kümmert den Paläontologen nicht, da sind 20 Jahre auch schnell ins Land gegangen, bevor man das erreicht hat, was man erreichen will. Für uns ist auch der Weg ein ganzes Stück des Zieles bei diesem Unesco-Vorhaben, und wir denken, dass es die Stadt enorm aufwerten kann, und auch diesen versteinerten Wald in das Licht rücken, was er verdient."
Wird aus dem früheren Karl-Marx-Stadt nun die Stadt der toten Bäume? Stadtmarketing-Experte Michael Quast ist eher skeptisch. Denn wirklich wichtig sei das Projekt vor allem für Paläontologen.

"Die brauchen das sicher, das ist keine Frage, aber der normale Tourist braucht das nicht, die Schwierigkeit ist eben, dass das kein Stück Kultur ist, dass von Menschenhand gemacht ist, sondern eben ein Stück Naturerbe eben, und da fällt die Identifikation schwerer, und deswegen mache ich eben auch an dem breiten öffentlichen Interesse ein kleines Fragezeichen."

Dabei ist die Sache für Museumsleiter Rößler längst klar.

"Am Ende wird es für die Stadt natürlich ein ganz mächtiger Imagefaktor sein, ein Weltnaturerbe zu haben, denn das wäre das einzige Weltnaturerbe hier im Osten Deutschlands, und vergleichbar dann mit Stätten wie dem Great Barrier Reef in Australien und dem Yellowstone National Park, und in der Reihe genannt zu werden, das hat schon was."

Eine verlockende Aussicht, zumal die Stadt momentan immer nur mit ihren sächsischen Nachbarn verglichen wird – und dabei meist nicht sonderlich gut abschneidet. Denn im Wettbewerb mit der Barockmetropole Dresden und der Messestadt Leipzig hat Chemnitz einen schweren Stand. Marketing-Chef Quast kann die Vergleiche deshalb auch schon längst nicht mehr hören.

"Wir müssen mit den Vergleichen aufhören, also: Leipzig und Dresden spielen so in einer Liga mit Köln, Berlin, Hamburg, und man muss Chemnitz vergleichen mit Städten gleicher Größe, zum Beispiel Kiel, Augsburg, Braunschweig, Krefeld usw., Halle ist noch eine vergleichbare Stadt in den neuen Bundesländern – und dann verschiebt sich auf einmal die Wahrnehmung ganz erheblich."

Auf Augenhöhe mit Krefeld und Braunschweig – das klingt nicht gerade nach internationaler Ausstrahlung und Weltniveau.

Doch was also ist das Potential der Stadt? Die Chemnitzerin Evelin Döll arbeitet seit 16 Jahren als Selbständige. Sie ist stolz auf ihre Heimat – und hat einen ganz besonderen Exportschlager entwickelt.

"Und das ist also ein Buttertrüffel, ein Vollmilchbuttertrüffel mit einem Schokoladenaufleger, auf dem der Karl-Marx-Kopf zu sehen ist, und daraus entstand die Karl-Marx-Trüffel, die ich mir natürlich mir markenrechtlich habe schützen lassen. So, aus dem Ganzen ist also die Chemnitzer 'Praline mit Köpfchen' entstanden."

Das Geschäft laufe gut, sagt Evelin Döll. Schüler, die ein Austauschjahr machen, Chemnitzer, die zu Verwandten und Bekannten in die alten Bundesländer fahren - alle kaufen gerne die "Praline mit Köpfchen". Ist Karl Marx am Ende nur noch das Maskottchen einer Stadt, die sich gerade auf den Weg gemacht hat, eine neue Identität zu finden? Mathias Lindner von der Neuen Sächsischen Galerie hat eine andere Hoffnung.

"Vielleicht kann man auf lange Sicht diesem Denkmal noch etwas hinzufügen, dass es auch so ein Punkt der Auseinandersetzung wird, schließlich ist es der große Kritiker letztendlich der Verhältnisse, in denen wir jetzt leben, und das ist schon eine sehr mutige Angelegenheit, wenn eine Stadt sich ihren eigenen Stachel sozusagen mitten ins Zentrum stellt, das finde ich auch tapfer, dass man das aushält und dass man das belässt, und in dieser Ambivalenz zwischen Maskottchen und Stachel ist es eigentlich ganz gut aufgehoben glaube ich."

Dieser Stachel ist auch Evelin Döll nicht entgangen. Deshalb versteckt sie ihre Karl-Marx-Pralinen lieber in einer unverdächtigen Schachtel, die eine historische Stadtansicht von Chemnitz ziert. Karl Marx auf dem Cover – lieber nicht!

"Nee, das hätte ich auch nicht gewollt, weil so politisch angelegt wollte ich’s nicht haben, ich wollte etwas über die Stadt Chemnitz oder von der Stadt Chemnitz und hatte mir auch ein Chemnitzer Motiv ausgesucht, das war die Grundidee vom Ganzen. Ich wollte ja eine Praline, mit der sich die Chemnitzer identifizieren können."

Dabei scheint Döll die Marktlage und Interessen der Chemnitzer genau zu beobachten. Denn in Zukunft bekommt die Marx-Praline neue Konkurrenz.

"Ich habe jetzt vor, darüber hinaus auch den steinernen Wald, wo also auch die Stadt Chemnitz ein ganzes Stück stolz drauf ist, dass es so was bei uns eben in der Region, in unserer Stadt gibt, dass also so was auf Schokolade gebracht wird, und in Vollmilch und Zartbitter-Schokolade, so dass also auch diese Chemnitzer Täfelchen auch ein Produkt sind, womit der Chemnitzer anderen Freude machen kann."

Es muss offenbar nicht immer Marx sein. Denn wer nur tief genug in der Erdgeschichte gräbt, kann auch daraus eine Identität konstruieren, die sich am Ende in Schokolade pressen lässt.