Der vergessene Sohn

Rezensiert von Martin Sander |
Vincent Doblin, Sohn des berühmten Schriftstellers Alfred Döblin, dient im II. Weltkrieg in der französischen Armee. Er wählt im Juni 1940 den Freitod. Er bleibt als genialer Mathematiker mit einer Arbeit über die Kolmogoroffsche Gleichung in Erinnerung. Der französische Literaturwissenschaftler Marc Petit ist den Spuren von Vater und Sohn Döblin nachgegangen.
Im Juni 1940 erschießt sich der französische Soldat Vincent Doblin in einer Scheune des Vogesendorfs Houseras. Kurz darauf kapituliert Frankreich vor den Armeen Hitlerdeutschlands. Vor seinem Tod hat der gerade erst 25 Jahre alte Doblin eines seiner Werke in einem verschlossenen Umschlag der Akademie der Wissenschaften in Paris zukommen lassen. Erst 60 Jahre später, im Jahr 2000, wird dieser Umschlag geöffnet. Er enthüllt eine Arbeit über die Kolmogoroffsche Gleichung, in der man heute einen Schlüssel zur modernen Wahrscheinlichkeitstheorie sieht.

Vincent Doblin hieß eigentlich Wolfgang Döblin. Er war nicht nur ein mathematisches Genie, sondern auch Sohn eines berühmten Vaters, des Schriftstellers Alfred Döblin. Zwischen der literarischen Sicht des Vaters und dem mathematischen Weltbild des Sohnes tat sich mancher Gegensatz auf, von den alltäglichen Familienkonflikten einmal ganz abgesehen.

Der französische Dichter und Literaturwissenschaftler Marc Petit hat sich dem Leben von Wolfgang und Alfred Döblin jetzt in einer kontrastiven Biographie zugewandt. "Die verlorene Gleichung", im Eichborn Verlag erschienen, porträtiert Alfred Döblin - den 1878 in Stettin geborenen pommerschen Juden, Dichter und Armenarzt im Berliner Osten, Autor des Bestsellers "Berlin Alexanderplatz" - in seiner stets unangepassten, gesellschaftskritischen und zugleich von manchen Brüchen geprägten Haltung.

Petit zeichnet Alfreds vergeblichen Einsatz für eine soziale Demokratie in Deutschland nach, seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus und die schwierigen Jahre des französischen und amerikanischen Exils. Zugleich beschreibt er den schwierigen Charakter des Schriftstellers, der weder mit noch ohne seine Ehefrau leben konnte, der sich leicht mit Dichterfreunden und politischen Verbündeten überwarf und der stets unter starken Schuldgefühlen litt. Diese Gefühle hingen nicht zuletzt mit seinem Sohn Wolfgang zusammen.

Erst bei Kriegsende erfuhr Alfred davon, dass Wolfgang 1940 den Freitod gewählt hatte. Inzwischen zum Katholizismus konvertiert, hielt er diese Tatsache bis zum Ende seines Lebens geheim. Zugleich widmete er sich dem Schicksal des Sohnes, wenn auch verschlüsselt, in seinem letzten großen Roman: "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt kein Ende".

Die Geschichte Wolfgangs gibt dem Betrachter noch viel mehr Rätsel auf. Über den jungen, genialen, in internationalen Fachkreisen bald geschätzten Mathematiker weiß man viel weniger als über seinen bereits zu Lebzeiten berühmten Vater. Wolfgang scheint weltfremd, fast ohne freundschaftliche Bindungen, stark seiner - von Alfred immer wieder betrogenen - Mutter zugewandt. Was die Politik betrifft, erweist er sich allerdings als weltkundiger Pragmatiker. Er teilte nicht die in der Linken verbreitete Ansicht, dass Hitler nur ein Strohfeuer sei, und er erlag nicht den Illusionen von der "Macht der Intellektuellen", denen sein Vater zweifellos nachhing. Stattdessen meldete er sich zum Dienst für die französische Armee.

Marc Petit beweist sein fulminantes Erzähltalent nicht zuletzt durch spannende Ausflüge in das nicht eben einfache Genre der Wahrscheinlichkeitstheorie. Sein Buch lohnt die Lektüre, denn es liefert ein ebenso außergewöhnliches wie faszinierendes Mosaik aus Politik, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage eines Porträts von Vater und Sohn.

Bei allen Gegensätzen zwischen den Charakteren findet der Autor übrigens doch etwas Gemeinsames. Es ist letztlich doch, sagt Marc Petit, dieselbe Idiotie, dasselbe Gefühl der Fremdheit gegenüber dem Leben, das den einen in die Arme der Literatur und den anderen in die der Mathematik trieb.

Marc Petit: Die verlorene Gleichung. Auf den Spuren von Wolfgang und Alfred Döblin
Aus dem Französischen übersetzt von Antoinette Gittinger
Eichborn Verlag 2005,
397 S., 24,90 €.
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