Der verführerische Reiz des Zerstörten

Von Tomas Fitzel · 05.03.2010
Rund 100 Dokumente und Archivalien aus dem zerstörten Stadtarchiv Köln sind derzeit in Berlin zu sehen. Darunter befindet sich eine Handschrift von Albertus Magnus aus dem Jahr 1258, Manuskripte von Heinrich Böll und eine Partitur von Jacques Offenbach aus dem Jahr 1855.
Die Ausstellung ist verwirrend und vor allem ungewohnt, denn sie entspricht in gar nichts der üblichen Erwartung, die man als Besucher an eine Ausstellung hat: nämlich schöne, interessante Dinge zu sehen bekommen. Dabei sieht man ebenso schöne wie auch interessante Objekte.

Bettina Schmidt-Czaia: "Das Ganze ist chronologisch geordnet und es ist dem Zufall überlassen geblieben, was wir eigentlich für diese Ausstellung präsentieren können."

Die Direktorin des Kölner Stadtarchivs, Bettina Schmidt-Czaia. Ihre Füße schmerzen, denn sie ist den ganzen Tag immer und immer wieder die Ausstellung mit Journalisten durchgegangen, um zu erklären, was wir zu sehen bekommen.

"Man sieht alle Möglichkeiten der Schadensbilder, alles, was den Stücken bei uns im Haus passiert ist. Man sieht aber auch bereits restaurierte Stücke und wie das gemacht wurde, also vorher, nach dem Einsturz und jetzt, wie es bereits wiederhergestellt wurde."

Angefangen von wunderbaren Buchmalereien aus dem Mittelalter oder einer Manuskriptseite von Heinrich Böll, einem Fotoalbum des Kölner Männergesangsvereins Cäcilia Wolkenburg bis zu ganz gewöhnlich erscheinenden Akten sieht man eine verwirrende Vielfalt von Dokumenten, die das Kölner Stadtarchiv beherbergte. Einzig die Katastrophe, die erlittene Brachialgewalt bildet ihre Verbindung untereinander. Unter einem Glassturz ein Buch oder das, was davon übrig blieb, mehr Papierbrei und kaum entwirrbares Papierknäuel, eingerissene jahrhundertealte Urkunden, kaum zu retten, möchte man meinen.

Bettina Schmidt-Czaia: "Auch dieses Stück, da ist ganz viel zu retten, wir können es leider nicht umdrehen, Sie sehen eine Urkunde, die auf dem Bauch liegt, praktisch auf dem Karton, in dem sie gelagert worden war. Wenn wir das jetzt umdrehen, dann zerbröseln die Wachssiegel. Sie sind aber noch erhalten, sodass man erst wenn man es restauriert, rangehen kann, die Puzzle wieder zusammensetzen kann, und solange muss sie so liegen."

Von einer Katastrophe, aber auch der wunderbaren Rettung erzählt diese Ausstellung. Am Schluss einer sehr frühen Abschrift von Gottfried von Straßburgs "Tristan und Isolde" hatte der frühere Besitzer und Sammler Everhard von Groote einen Segensvers einfügen lassen.

Bettina Schmidt-Czaia: "'Heute nenne ich es mein, wer besitzt es morgen / Gott mag ihm dann gnädig sein und stets weiter sorgen'. Wir dürfen ja heute sagen, dieses Segensgebet ist erhört worden, denn in der Nacht vom 3. auf den 4. März 2009 konnte dieses Stück gerettet werden."

Aber noch viel erstaunlicher ist das Werk der Restauratoren, denn manchmal muss man mehr als nur zweimal hinschauen, um die Schäden überhaupt noch entdecken zu können.

Bettina Schmidt-Czaia: "Wenn Sie hier schauen, haben Sie ein Vorherbild, nach dem Einsturz sieht man am rechten Rand starke Schäden. Sie sehen, es ist ein Wasserschaden, es ist ein Stoßschaden und diese Urkunde konnte bereits mit Mitteln der Kulturstiftung der Länder und eines Unternehmens restauriert werden und Sie sehen, was man damit erreichen kann, wenn man Geld in die Hand nimmt, kann man ganz viel wiederherrichten."

Das eigentliche Ausstellungsobjekt, die Katastrophe, bleibt allerdings auch trotz der Fotografien an den Wänden und auch einem Film über die Bergung der Archivalien nicht wirklich fassbar. Deshalb zeigt man das Fragment eines Archivregals.

"Sie sehen hier Reste vom Kölner Karton, das ist nun wirklich Kölner Karton, und wie die Akte umgeben ist von dem verformten Stahlregal. Und welche Kräfte nötig gewesen sein müssen, um das in diesen Zustand zu verbringen."

Doch kein Glassturz, lediglich eine vielfach gesprungene und gebrochene Glasscheibe schützt hier das Archivgut.

"Ja, das soll symbolisieren, welche Kraft da eingewirkt hat auf diese Stelle."

Das ist die verführerische Gefahr dieser Ausstellung. Als katastrophenverliebte Flaneure sind wir imstande, auch noch im Zerstörten einen ästhetischen Genuss zu finden, ebenso wie wir auch durch Pompeji genießend schreiten. Man möchte sofort diese Papierknäuel fotografieren oder zeichnen, diese Linien und Formen. Unter der Gewalt ist Kultur hier wieder Natur geworden. Dieser Blick ist freilich der Direktorin Bettina Schmidt-Czaia ganz und gar fremd:

"Ästhetisch wird es sein, wenn es uns gelingt, diese Bestände zu rekonstruieren, sie zu restaurieren und sie wieder zur Benutzung zu bringen, das ist mein Kunstwerk., das möchte ich schaffen, dann ist es auch für mich Kunst."

Bettina Schmidt-Czaia wird bis zum Ende ihres Berufslebens nur mit der Wiederherstellung des Archivs beschäftigt sein und wahrscheinlich dann auch noch ihr Nachfolger. Wo will man beginnen? Was restauriert man zuerst? Wie bekommt man Gelder und Sponsoren? Drei Millionen Schnipsel warten darauf, dass eine Computersoftware entwickelt wird, die eines Tages vielleicht in der Lage ist, sie wieder zu ordnen. Eine Aufgabe, bei der so mancher wahrscheinlich lieber davonlaufen möchte.

"Das ist sicher der allererste Impuls, den man hat, dass man einfach weglaufen möchte, wenn einem so etwas vor die Füße fällt. Aber die Tatsache, dass wir das alle überlebt haben körperlich, dass wir völlig unverletzt geblieben sind, bedeutet auch die Verpflichtung und den Auftrag, dieses wieder aufzubauen. Und alles dazu zu tun, dass das wieder genutzt werden kann. Das hab ich so für mich begriffen oder verstanden und auf diesem Weg sind viele meiner Mitarbeiter mitgegangen."

Service:
Die Ausstellung "Köln in Berlin. Nach dem Einsturz: Das historische Archiv" mit rund 100 Dokumenten aus dem Kölner Stadtarchiv ist vom 6. März bis 11. April 2010 im Martin-Gropius-Bau Berlin zu sehen.