Der Verbrecher als moderner Underdog
Zumindest eine Gemeinsamkeit hat der Dichter Albert Ostermaier mit dem Dichter Friedrich Schiller: einen fatalen Hang zum Pathos. Aber während der Ältere eine Ode an die Freude schrieb, verfasste der Nachgeborene kürzlich eine Ode an den Fußballspieler Mehmet Scholl. Das ist thematisch dann doch ein paar Stockwerke tiefer gehängt.
Beide Herren waren als Hausautoren beim Mannheimer Nationaltheater unter Vertrag, und wenn Ostermaier jetzt Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" für die Schillertage auffrisiert, dann ist das weniger als Verbeugung vor dem Alten, sondern als politische Fortentwicklung ins Aktuelle zu verstehen.
Wo Schiller noch den psychologischen Einzelfall zu didaktischen Zwecken aufbereitete, da ist der an Ernst Toller geschulte Ostermaier mit bisweilen expressionistisch geblähter Sprache ganz Ekstatiker im Hier und Jetzt. Zwar beschreibt auch er raunend die "schwarzen Minuten" (so heißt das Stück) vor jenem Schuss, mit dem das Schicksal sich wendet, mit dem man zum Mörder wird, aber bei ihm ist die (an dem Machttheoretiker Michel Foucault aufgeladene) Sympathie mit den Entrechteten und Beleidigten unübersehbar.
Und selbstredend ist der historisch belegte Räuber Friedrich Schwan, der bei Schiller zum Gastwirt Christian Wolf wird (und Mitte des 19. Jahrhunderts vom Hermann Kurz als "Sonnenwirt" in die schwäbische Volksdichtung eingemeindet wurde), bei Ostermeier ein sehr heutiger Underdog. Zwecks besserer Übersicht wird er sogar aufgespalten in zwei Figuren: der Ältere, Swan, also Schwan, erzählt innere Monologe, Selbstreflexionen, Tagebuchartiges, der Jüngere, Loup, also Wolf, agiert die ausweglose Verbrecherkarriere.
In Mannheim laufen alle Mitarbeiter der Schiller-Tage in possierlichen schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift "Bestie Mensch" herum - die will man auf dem Festival untersuchen. Also: wie viel Mensch, wie viel Tier sind wir? Burkhard C. Kosminki hat mit seiner Inszenierung des Ostermeier-Stücks eine salomonische Lösung gefunden: ganz viel Zoon politicon ist in uns, behauptet er, das untersucht werden müsse, lässt aber zwecks Emotionszufuhr das Herz des ausgestoßenen Gastwirts beim Anblick des Heimatdorfs ganz wild klopfen:
"So wild klopfte es, als ich den Kirchturm von weitem sah..". "Mutter!" - "Das wird ein Höllentrip" - "Mutter!"
Solch herbe Ausbrüche sind aber zunächst die Ausnahme. Kosminskis Inszenierung liest sich über weite Strecken wie eine langatmige Familienaufstellung auf schräger Ebene, in der die Figuren brechtisch umeinandergruppiert werden: hier die fordernde Geliebte, die fremdgeht und zur Nutte wird, dort der mafiose Nebenbuhler, der ermordet wird und (bei Ostermaier) später den Richter geben darf; hier die verhärmte Mutter, dort der von Ostermaier ins Stück eingefügte Sturm-und-Drang-Rebell Christian Friedrich Schubart, der ja auch zwischen Mannheim und Stuttgart im Knast saß, auf dem Hohenasperg.
Von dort ist es dann nicht weit bis Stammheim - jedenfalls ist die Technik-Kabine, von der aus die Aufführung gesteuert wird, wie die Überwachungs-Zentrale des RAF-Gefängnisses eingesetzt; von dort aus wird Loup, die Hauptfigur, immer wieder instruiert und dirigiert.
Auch die Fahndungsmethoden sind natürlich ganz up to date, Speichelprobe inklusive. Allerdings muss Ostermaier den Abscheu vor der guten Gesellschaft dann wieder mit seiner expressiven Sprache aufmotzen, die manchmal in schiefe Bilder kippt. "Wenn sie meinen Speichel wollen, bekommen sie nur die Spucke ins Gesicht", sagt die monologische Alter-Ego-Figur Swan. Und: "Mein genetischer Fingerabdruck ist ein Labyrinth, in dessen Mitte ein Ungeheuer lacht". Nun, das klingt sehr schön, aber genetische Fingerabdrücke sind nun mal keine Labyrinthe, und in Ostermaiers Satz lacht höchstens das Ungeheuer des lyrischen Kitsches. Und solche Sätze sind nicht ganz untypisch für ihn.
Ostermaier kann sich nicht entscheiden: will er ganz brechtisch eine Biographie zeigen, die, von der bösen Gesellschaft gesteuert, in die Ausweglosigkeit, ins Abseits führt? Oder will er, frei nach Genet, die Seligsprechung des Außenseiters betreiben? Er will alles gleichzeitig, und sein Regisseur Burkhard Kosminski will das auch. So kommt eine eher laue Aufführung zustande, die an einigen Stellen zwar krawallig aufdreht, aber in den analytischen Teilen sehr fad bleibt.
Nehmen wir den Begriff der Ehre (Schillers Erzählung hieß ja zuerst "Verbrecher aus Infamie", dann "Der Verbrecher aus verlorener Ehre"). Bei Schiller ist die Ehre eindeutig von außen beschnitten: die Gesellschaft stößt den Wilddieb aus, der immer tiefer in den Strudel der Verfehlungen gerät und schließlich zum Mörder und Gang-Chef wird. Bei Ostermaier ist das alles schwer modernisiert, aber die Verletzung ist bei ihm eher eine narzisstische Kränkung - interessanterweise jener Kränkung ähnlich, die Islamisten immer beklagen, wenn sie von ihrer verletzten Ehre erzählen. So wird der Gastwirt Friedrich Schwan bei Ostermaier zum Staatsfeind Nr.1, der sich wollüstig im Bösen, im Verworfenen suhlt.
Die Inszenierung kommt da, mangels emotionaler Möglichkeiten des Ensembles, nicht recht mit: es wirkt alles gestellt und, ja, blutleer. Diese inszenatorische Ödnis wird dann durch Politik übertüncht: Loup, die Hauptfigur, der Verworfene, wird kurzerhand nach Stammheim verbracht und in Isolationshaft mit Elektroschocks behandelt; sein bei Schiller noch freiwilliges Geständnis ist nun Ergebnis einer perfiden Verhörstrategie, und Regisseur Kosminski zieht am Schluss dann das gesamte Polit-Programm mit Entführung und dergleichen ab, inklusive Megaphon-Einsatz:
"Es ist ein fairer Handel: Sie bekommen Ihren Millionär zurück, und ich ziehe in den Krieg für Sie. Sie schaffen dafür die Isolationshaft ab. Und ich verschwinde aus dieser Welt."
Ostermaiers glorioser Verbrecher wird in Stammheim von einem Wärter ermordet, der ihm Buchseiten in den Schlund stopft. Stirbt er gar an der Literatur? Oder stirbt die Literatur auf dem Theater? Ostermaiers Text ist eine Art Friedrich Schiller in Lederjacke. Die Inszenierung von Burkhard Kosminski dagegen kommt in einem Aschenputtel-Aufzug daher.
Albert Ostermaier: Schwarze Minuten
Inszenierung: Burkhard Kosminski
Bühne: Florian Etti
Schauspielhaus Mannheim
Wo Schiller noch den psychologischen Einzelfall zu didaktischen Zwecken aufbereitete, da ist der an Ernst Toller geschulte Ostermaier mit bisweilen expressionistisch geblähter Sprache ganz Ekstatiker im Hier und Jetzt. Zwar beschreibt auch er raunend die "schwarzen Minuten" (so heißt das Stück) vor jenem Schuss, mit dem das Schicksal sich wendet, mit dem man zum Mörder wird, aber bei ihm ist die (an dem Machttheoretiker Michel Foucault aufgeladene) Sympathie mit den Entrechteten und Beleidigten unübersehbar.
Und selbstredend ist der historisch belegte Räuber Friedrich Schwan, der bei Schiller zum Gastwirt Christian Wolf wird (und Mitte des 19. Jahrhunderts vom Hermann Kurz als "Sonnenwirt" in die schwäbische Volksdichtung eingemeindet wurde), bei Ostermeier ein sehr heutiger Underdog. Zwecks besserer Übersicht wird er sogar aufgespalten in zwei Figuren: der Ältere, Swan, also Schwan, erzählt innere Monologe, Selbstreflexionen, Tagebuchartiges, der Jüngere, Loup, also Wolf, agiert die ausweglose Verbrecherkarriere.
In Mannheim laufen alle Mitarbeiter der Schiller-Tage in possierlichen schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift "Bestie Mensch" herum - die will man auf dem Festival untersuchen. Also: wie viel Mensch, wie viel Tier sind wir? Burkhard C. Kosminki hat mit seiner Inszenierung des Ostermeier-Stücks eine salomonische Lösung gefunden: ganz viel Zoon politicon ist in uns, behauptet er, das untersucht werden müsse, lässt aber zwecks Emotionszufuhr das Herz des ausgestoßenen Gastwirts beim Anblick des Heimatdorfs ganz wild klopfen:
"So wild klopfte es, als ich den Kirchturm von weitem sah..". "Mutter!" - "Das wird ein Höllentrip" - "Mutter!"
Solch herbe Ausbrüche sind aber zunächst die Ausnahme. Kosminskis Inszenierung liest sich über weite Strecken wie eine langatmige Familienaufstellung auf schräger Ebene, in der die Figuren brechtisch umeinandergruppiert werden: hier die fordernde Geliebte, die fremdgeht und zur Nutte wird, dort der mafiose Nebenbuhler, der ermordet wird und (bei Ostermaier) später den Richter geben darf; hier die verhärmte Mutter, dort der von Ostermaier ins Stück eingefügte Sturm-und-Drang-Rebell Christian Friedrich Schubart, der ja auch zwischen Mannheim und Stuttgart im Knast saß, auf dem Hohenasperg.
Von dort ist es dann nicht weit bis Stammheim - jedenfalls ist die Technik-Kabine, von der aus die Aufführung gesteuert wird, wie die Überwachungs-Zentrale des RAF-Gefängnisses eingesetzt; von dort aus wird Loup, die Hauptfigur, immer wieder instruiert und dirigiert.
Auch die Fahndungsmethoden sind natürlich ganz up to date, Speichelprobe inklusive. Allerdings muss Ostermaier den Abscheu vor der guten Gesellschaft dann wieder mit seiner expressiven Sprache aufmotzen, die manchmal in schiefe Bilder kippt. "Wenn sie meinen Speichel wollen, bekommen sie nur die Spucke ins Gesicht", sagt die monologische Alter-Ego-Figur Swan. Und: "Mein genetischer Fingerabdruck ist ein Labyrinth, in dessen Mitte ein Ungeheuer lacht". Nun, das klingt sehr schön, aber genetische Fingerabdrücke sind nun mal keine Labyrinthe, und in Ostermaiers Satz lacht höchstens das Ungeheuer des lyrischen Kitsches. Und solche Sätze sind nicht ganz untypisch für ihn.
Ostermaier kann sich nicht entscheiden: will er ganz brechtisch eine Biographie zeigen, die, von der bösen Gesellschaft gesteuert, in die Ausweglosigkeit, ins Abseits führt? Oder will er, frei nach Genet, die Seligsprechung des Außenseiters betreiben? Er will alles gleichzeitig, und sein Regisseur Burkhard Kosminski will das auch. So kommt eine eher laue Aufführung zustande, die an einigen Stellen zwar krawallig aufdreht, aber in den analytischen Teilen sehr fad bleibt.
Nehmen wir den Begriff der Ehre (Schillers Erzählung hieß ja zuerst "Verbrecher aus Infamie", dann "Der Verbrecher aus verlorener Ehre"). Bei Schiller ist die Ehre eindeutig von außen beschnitten: die Gesellschaft stößt den Wilddieb aus, der immer tiefer in den Strudel der Verfehlungen gerät und schließlich zum Mörder und Gang-Chef wird. Bei Ostermaier ist das alles schwer modernisiert, aber die Verletzung ist bei ihm eher eine narzisstische Kränkung - interessanterweise jener Kränkung ähnlich, die Islamisten immer beklagen, wenn sie von ihrer verletzten Ehre erzählen. So wird der Gastwirt Friedrich Schwan bei Ostermaier zum Staatsfeind Nr.1, der sich wollüstig im Bösen, im Verworfenen suhlt.
Die Inszenierung kommt da, mangels emotionaler Möglichkeiten des Ensembles, nicht recht mit: es wirkt alles gestellt und, ja, blutleer. Diese inszenatorische Ödnis wird dann durch Politik übertüncht: Loup, die Hauptfigur, der Verworfene, wird kurzerhand nach Stammheim verbracht und in Isolationshaft mit Elektroschocks behandelt; sein bei Schiller noch freiwilliges Geständnis ist nun Ergebnis einer perfiden Verhörstrategie, und Regisseur Kosminski zieht am Schluss dann das gesamte Polit-Programm mit Entführung und dergleichen ab, inklusive Megaphon-Einsatz:
"Es ist ein fairer Handel: Sie bekommen Ihren Millionär zurück, und ich ziehe in den Krieg für Sie. Sie schaffen dafür die Isolationshaft ab. Und ich verschwinde aus dieser Welt."
Ostermaiers glorioser Verbrecher wird in Stammheim von einem Wärter ermordet, der ihm Buchseiten in den Schlund stopft. Stirbt er gar an der Literatur? Oder stirbt die Literatur auf dem Theater? Ostermaiers Text ist eine Art Friedrich Schiller in Lederjacke. Die Inszenierung von Burkhard Kosminski dagegen kommt in einem Aschenputtel-Aufzug daher.
Albert Ostermaier: Schwarze Minuten
Inszenierung: Burkhard Kosminski
Bühne: Florian Etti
Schauspielhaus Mannheim