"Der Verbraucher ist schuld"

Würde der Verbraucher mehr fürs Essen bezahlen, würde alles wieder gut. Man kennt die Sprüche: Je mehr Geld der Verbraucher für seine Lebensmittel ausgibt, desto ehrlicher werden Hersteller und Handel. Nur so könne er sich fürderhin von bösen Überraschungen freikaufen. Doch dieser weiß längst, dass ein höherer Preis nun mal keine Garantie für bessere Qualität ist.
Er ahnt, dass er damit wahrscheinlich nur die Taschen der Gammelfleisch-Dealer füllt. Sein einst blindes Vertrauen in die Lebensmittelqualität ist perdu. Was macht ein Mensch, der einer ganzen Branche misstraut, aber irgendetwas kaufen muss, weil er nicht umhinkommt, zu essen? Er kauft das, was am billigsten ist. Denn da riskiert er am wenigsten.

Zudem erfährt der Konsument jeden Tag aus plapperndem Expertenmund, dass Essen per se "ungesund" ist. Es fehle an "wertvollen" Spurenstoffen, während die sättigenden "Kalorien" nur seine Schuldgefühle verstärken. Jedes Vitamindöschen, das der Kunde neben dem Salat in den Einkaufswagen legt, besagt nicht mehr oder weniger, als dass seiner Sicht die Nahrung mangelhaft ist, dass er davon alt, krank und hässlich wird. Wer überzeugt ist, seine Nahrung sei mangelhaft – eine der zentralen Botschaften unserer medialen Ernährungsaufklärer – der gibt dafür kein Geld mehr aus.

Es stimmt also nicht, dass viele Menschen vor allem deshalb beim Essen sparen, um nach Mallorca fliegen zu können. Sie geizen, weil ihr Vertrauen dahin ist. Das eingesparte Geld entspricht – das legen zumindest die wenigen vorhandenen Daten nahe - in seiner Größenordnung den wachsenden Ausgaben für Nahrungsergänzungsmittel. Die werden im Glauben geschluckt, man könne damit in Mallorca eine "gute Figur" machen, eine Figur, die angeblich dem Verzehr von Wurstsemmeln oder Sahneschnittchen zum Opfer gefallen war.

Auf Seminaren und Kongressen beklagen die Marketingfachleute (also jener Personenkreis, der durch Vortäuschung falscher Tatsachen die Preisbewilligungsbereitschaft des inzwischen ernüchterten Kunden vergeblich zu erhöhen trachtet), dass man das Einkaufsverhalten des Verbrauchers nicht mehr verstünde, ja es sei inzwischen "völlig irrational". Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die reflexartige Klage wohl eher jene Ursachen verschleiern soll, die das Marketing selbst zu verantworten hat. Die meisten Verbraucher kaufen exakt so ein, wie ein handelsüblicher Werbemaxe auch. Inzwischen wissen beide, dass die Marketingbotschaften dummes Zeug sind, sie haben realisiert, dass Käse nicht von Mönchen in Handarbeit verfertigt wird, um ihn mit der Pferdekutsche ins Supermarktregal zu verfrachten, sie ahnen, dass Ritter keine Streichwurst herstellen und der Ort der Produktion schwerlich eine Mühle sein kann, die als Markensymbol auf der Pelle prangt. Den Marketingexperten bleibt – so wie jedem anderen Kunden auch - als einziger Maßstab nur der Preis und die Hoffnung auf ein Schnäppchen. Denn auch sie wissen nicht, was sie kaufen.

Nun ist das alles andere als neu. 2001 erhielt George A. Akerlof zusammen mit seinen Kollegen A. Michael Spence und Joseph E. Stiglitz für diese Einsicht sogar den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie hatten herausgefunden, dass der Verbraucher umso weniger bezahlt, je weniger er über ein Produkt weiß. Ein Beispiel: In Ländern, in denen Gebrauchtwagen mit allerlei Details inseriert wurden, zahlten die Kunden für ein gleichwertiges Auto deutlich mehr als dort, wo auf Details verzichtet wurde. Was im ersten Moment eher belanglos wirkt, hat weit reichende Folgen für die Qualität. Denn wenn ein unfallfreies Fahrzeug mit diversen Extras mit den gleichen Worten angeboten wird, wie ein notdürftig geflickter aber optisch unauffälliger Unfallwagen, dann wird der Anbieter des gepflegten Pkw in der Regel nur den Durchschnittspreis erzielen – und damit einen Verlust erleiden. Profitabler ist das Schrottauto, denn auch dessen Verkäufer kann sich gute Hoffnungen machen, ebenfalls den Durchschnittspreis abzugreifen. Da Schrottprodukte im Englischen "Lemons" genannt werden, spricht man von Lemon-Markets. Wenn aber nur die Anbieter von Lemons auf ihre Kosten kommen, dann gibt es eine Qualitätsspirale nach unten. Nach einige Jahrzehnten Praxis gelangt man dorthin, wo unsere Lebensmittelwirtschaft heute steht: Unsere Supermärkte sind "lemon markets" wie aus dem Lehrbuch.

Akerlof kam zum Schluss, dass ein Preisverfall unaufhaltsam ist, wenn sich das ganze Knowhow in der Hand des Anbieters befindet. Ein Kunde, der den Wert der Ware nicht beurteilen kann, ist kein Kunde, der bereit ist, tief in die Tasche zu greifen. Das ist natürlich ein Schlag ins Kontor der populären Marketingstrategie, die inbrünstig verzapft, man müsse dem Verbraucher nur eine treuherzige und reichlich dämliche Geschichte erzählen, um dann über die erhöhte Preisbewilligungsbereitschaft ordentlich abzukassieren. Was im Markt der Wundermittel a la "Antizellulitis-Joghurt" einige Zeit als Goldesel taugen mag, funktioniert nicht mehr auf Märkten, die ihren Heiligenschein eingebüßt haben. Auf dem Lebensmittelsektor verblassen die Märchen vom Öko-Schneewittchen, ihren Light-Zwergen und dem vergifteten Apfel mit CMA-Qualitätssiegel (ja, die schöne Seite war die giftige).

Zu dieser Situation hat auch die Politik – meist als Erfüllungsgehilfe der Wirtschaft – ihr Scherflein beigetragen. Die deutsche Verbraucherschutzpolitik zielte seit jeher darauf ab, den Wähler im Dunkeln zu lassen, sie ließ Verbraucherinformationen auf Kindergartenniveau verbreiten, und mühte sich per Deklaration soviel wie möglich zu verschleiern. Inzwischen hat der Kunde begriffen, dass Lebensmittel aus ebenso modernen Produktionsanlagen stammen wie sein Auto. Nun rächt sich diese Art staatlicher Desinformation. Wer höhere Preise will, der muss seine Kundschaft in die Lage versetzen, die Ware auch zu beurteilen, sie muss "billiges" von "teurerem" unterscheiden können. Warum sonst sollte sie mehr Geld ausgeben? Dabei wird die Branche nicht umhinkönnen, dem Bürger zu erklären, warum Billigprodukte eben billig sind. Und genau hier greift die starke Hand des Handels, an dessen Gängelband die Lebensmittelindustrie wie eine Marionette pariert. Der Handel kann kein Interesse daran haben, die "Geheimnisse" seiner Billigprodukte zu verraten. Ein Markenartikler, der es wagen würde, dieses zu tun, kann ab dann seine Produkte im Bauchladen an der nächsten Straßenecke verkaufen. In den Regalen der "lemon markets" ist für ihn dann kein Platz mehr.