Der Vater der Armen

Willi Does im Gespräch mit Kirsten Westhuis · 04.08.2012
Der vor fünf Jahren verstorbene Prister Abbé Pierre galt als das soziale Gewissen Frankreichs. Noch heute setzt sich die von ihm gegründete Emmaus-Bewegung für Menschen am Rand der Gesellschaft ein. Die Persönlichkeit Abbé Pierres sei aber unersetzlich, sagt der langjährige Emmaus-Aktivist Willi Does.
Kirsten Westhuis: Ein katholischer Priester, der immer wieder die jährliche Beliebtheitsskala anführte – noch vor den Stars und Sternchen aus Kino und Musik? Aber klar gibt es das – bei den Franzosen war das lange Zeit gang und gäbe. Abbé Pierre war in Frankreich ein Nationalheld, ja nahezu ein Heiliger. Und auch heute, gut fünf Jahre nach seinem Tod, bleibt der Begründer der Sozialbewegung Emmaus unvergessen.

Am 5. August 1912, also vor genau 100 Jahren, wurde Abbé Pierre geboren, als Sohn eines Unternehmers unter dem bürgerlichen Namen Henri Grouès. Wir wollen an diesen Mann mit der Baskenmütze erinnern, der als das soziale Gewissen Frankreichs und als Vater der Armen in die Geschichte einging. Nach dem Krieg gründete er in Frankreich die Emmaus- Gemeinschaft, die Lumpen sammelte und sie gemeinsam mit den Ärmsten der Armen wiederaufbereitete. Heute engagieren sich rund 400 Emmaus-Gruppen in mehr als 40 Ländern weltweit, für Obdachlose, Haftentlassene und andere Menschen, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind. In Deutschland ist die Emmaus-Gemeinschaft in Sonsbeck, Krefeld und Köln aktiv.

Ich habe vor der Sendung mit Willi Does gesprochen, der seit knapp 30 Jahren bei der Emmaus-Gemeinschaft Köln aktiv ist. Ich habe ihn gefragt, was ihn dazu gebracht hat, Abbé Pierre und seiner Sozialbewegung nachzufolgen:

Willi Does: Es war für mich jedenfalls der Anspruch, nicht nur soziale Arbeit zu machen, sondern vorher für das, was wir an guten Werken nach draußen geben, zu arbeiten. Also diese eigentümliche Mischung von sozialer Arbeit, gekoppelt mit konkreter handwerklicher und erwerbsmäßiger Arbeit hat mich fasziniert. Und die Eigentümlichkeit von Emmaus besteht bis heute darin, dass die Kompagnons der Gemeinschaften arbeiten, um sich selbst zu erhalten und für andere und Schwächere nützlich zu werden.

Westhuis: Dann steht dieser Mann und seine Ideen nicht nur für bedingungslose Nächstenliebe?

Does: Ich denke doch. Für bedingungslose Nächstenliebe ganz sicher. Der Abbé Pierre war aber einer, der das sehr praktisch umgesetzt hat. Es wurde immer beleuchtet an der jeweiligen Realität, die, zum Beispiel in Paris vor 60 Jahren oder eben in der Geschichte von Emmaus in den verschiedenen Ländern auf den verschiedenen Kontinenten vorzufinden waren. Aber immer wurde versucht, eine praktische Lösung, jeweils passend zu der Gruppe, zu der Region, zu dem Land zu finden. Und zum Problem, was anstand. Vor 60 Jahren war es die große Obdachlosigkeit in kalten Wintern, die Desorientierung der französischen Politik damals, die den Abbé Pierre in den Zorn getrieben hat. Jetzt sind das möglicherweise etwas anders gelagerte Probleme, wobei ich schon den Verdacht habe, dass die Probleme eher schlimmer geworden sind als sich verbessert haben. Sie werden halt besser verkleistert heute.

Westhuis: Sie haben es schon erwähnt, in Paris fing alles an nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Not der Nachkriegszeit, da gründete Abbé Pierre die Emmaus-Gemeinschaft und sammelte verzweifelte Wohnungslose, Obdachlose und aber auch Wohlgesonnene um sich. Und es wurden Lumpen gesammelt und alte Gegenstände, um sie eben den Ärmsten zusammen zu geben. Wie wurde denn aus dieser kleinen, lokalen Hilfeleistung, wie wurde aus diesem, ja, ganz konkreten Einsatz, daraus, diese nationale Bewegung, dieser Ruck, den Abbé Pierre Frankreich verpasste.

Does: Ja. Die kleine Gruppe in Paris existierte fünf, sechs Jahre, und in dem sehr kalten Winter 1954 erfroren viele Menschen in Paris, Tausende von Leuten auf der Straße, in Klammern: heute nicht wesentlich besser, und Abbé Pierre erfuhr, dass eine Frau mit einem kleinen Baby erfroren war auf der Avenue oder Boulevard de Sébastopol, also mitten im Zentrum von Paris. Und er ist zornig zu dem damaligen Radiosender RTL gegangen und hat einen Appell der Güte improvisiert. Und daraus ist, womit er nie gerechnet hätte, eine beispiellose Spendenaktion geworden, die dann in Frankreich ermöglichte, sehr schnell Komitees nationalweit zu gründen, um Leuten von der Straße zu helfen. Und sehr schnell wurde eben auch das im näheren europäischen Ausland, zum Beispiel in Köln oder in Deutschland, in Holland, in Belgien publik, und sehr schnell entstanden dann ähnliche Komitees, Emmaus-Gruppen, Emmaus-Gemeinschaften nach dem Modell von Abbé Pierre.

Westhuis: Das soziale Gewissen – soziale Gewissen Frankreichs – wird Abbé Pierre auch immer wieder gern bezeichnet. Er hat also nicht nur an den Einzelnen appelliert, zu helfen, wo er kann, sondern eben auch den Staat in die Verantwortung genommen. Gerade nach dem Winter '54 erreichte er zum Beispiel auch den Bau von Sozialwohnungen, oder es gibt ein Recht auf Wohnung in Frankreich. Gehört die Politik direkt zu Abbé Pierre?

Does: Absolut! Absolut. Abbé Pierre hat immer den schönen Satz gesagt und hat ihn auch noch umgedreht: Emmaus ist eine Aktion, die Not lindern muss. Aber daneben müssen wir erkennen, woher die Ursachen der Armut und Verelendung und Ausgrenzung kommen und sie zerstören. Das war in der ersten Version, die er so formuliert hat, sehr radikal formuliert. Und so hat Emmaus sich immer verstanden. Wir müssen Not lindern, das findet auf ganz verschiedene Art und Weise statt, aber immer auch darauf hinweisen, woher diese Verelendung, Ausgrenzung, Ungerechtigkeit, Unfreiheit von Menschen herrührt. Der Abbé Pierre hat mal den schönen Satz gesagt, Emmaus ist im Grunde genommen der Floh im Pelz der Reichen. Ja, und das ist für mich hochnotpolitisch, die ganze Aktion.

Westhuis: Der Floh, der zwickt und zwackt und der ungeduldig hin und her springt. Ein Zitat von ihm ist auch: "Bewahren wir uns die Ungeduld des Handelns. Und bewahren wir uns dabei den Zorn." Sie sprachen gerade schon davon, radikal war dieser Mann. War das ein zorniger Mann?

Does: Ja, er war durchaus ein zorniger Mann, aber er hat, glaube ich, auch mal gesagt, ich weiß nicht, ob ich es genau hinkriege: Der liebe Gott, der hat mich ausstaffiert mit einem gesunden Zorn, aber auch mit einer Liebenswürdigkeit oder auch einer, ja, in seiner Persönlichkeit, in seiner Statur, eine bestimmte Hilflosigkeit auch. Also, er konnte sich sehr gut präsentieren, um seine Ziele zu erreichen. Selbst als er sehr alt war, sagte man noch über ihn, also die Gefährten von ihm, die ihn länger kannten, und die sagten dann, ja der Abbé Pierre kann sein, wie er will und ganz alt und ganz schwach werden, aber gebt dem Mann ein Mikrofon oder ein Ticket und er macht Aktionen. Oder prangert irgendwas an.

Westhuis: Er prangert an und er nimmt kein Blatt vor den Mund, habe ich den Eindruck. Er war ja auch ein sehr – ja, er war Priester und auch ein sehr kritischer Katholik, der auch immer wieder die katholische Kirche kritisierte. Und zum Beispiel in seinem letzten Buch, "Mein Gott, warum?" heißt es, fordert er zum Beispiel die Abschaffung des Pflichtzölibates oder die Zulassung von Frauen zum Priesteramt, das sind ja schon ziemlich moderne Thesen. Hatte er mit seiner Kirche, mit der katholischen Kirche, gebrochen?

Does: Gebrochen nicht. Er war mit ganz großer Überzeugung katholischer Priester, das kann ich so sagen. Aber er hatte mit der Amtskirche so seine liebe Mühe, das möchte ich schon sagen. Aber er war mit Überzeugung Priester, das hat er immer gesagt.

Westhuis: Ich habe noch ein Zitat dieses, ja, dieses wirklich gläubigen Menschen auch rausgesucht, und er sagte einmal: "Das Himmelreich ist dann gekommen, wenn der Mensch es nicht mehr ertragen kann, Unrecht zu sehen und ohne die anderen glücklich zu sein." Herr Does, entfernen wir uns heute eigentlich nicht wieder davon, von diesem Gedanken?

Does: Absolut. Abbé Pierre war auch in den letzten Jahren oft verzweifelt und sagte: Wir haben eine große Bewegung, also eine Bewegung von 400 Gruppen und in 40 Ländern, und wir freuen uns immer, als große Familie uns zu treffen. Aber die Ursachen der Verelendung, die Ausgrenzung, die gnadenlose Ausgrenzung, wir in Europa, die Emmaus-Gruppen, sind sehr aktiv in der Flüchtlingsarbeit, in der Migrationspolitik. Die Ausgrenzung von Menschen, die Festung Europas, die wir aufbauen, das sind die Themen, die ihn zum Teil wirklich auch traurig gemacht haben.

Wir entfernen uns von einer menschlichen Gesellschaft. Im letzten Buch hab ich gestern noch irgendwo geblättert, und – Not gab es immer, und die Gemeinschaften am Anfang waren auch sehr arm. Und er beschreibt die Armut auch, die sie ausgehalten haben. Und das war beschämend. Aber er sagte, jetzt habe ich den Eindruck, der Markt, die Märkte, die Industrie drückt alles, was an Menschlichkeiten möglich waren, an die Seite. In einer profitorientierten Gesellschaft hat man sehr schlechte Karten als soziale Bewegung. Das macht traurig. Und das macht eben auch zornig.

Westhuis: Abbé Pierre war eben eine Figur, die dagegen stand, als alter Mann noch, als weit über 90-Jähriger, mit seiner Mütze und seiner kleinen Statur. Jetzt ist er schon über fünfeinhalb Jahre tot. Haben Sie Angst, dass er und sein Erbe in Vergessenheit geraten könnten?

Does: Wir haben immer neue Gruppen. Wir nehmen jedes Jahr ungefähr zehn neue Gruppen in die Bewegung auf. Also die Bewegung, die Emmaus-Bewegung läuft weiter. Er hat uns auch kurz vor seinem Tod gesagt: Lasst uns weitermachen. Wir müssen weitermachen, wir haben keine andere Wahl. Allerdings muss ich schon sagen, dass eine Persönlichkeit wie Abbé Pierre schon sehr fehlt. Für uns, bei Emmaus, ich glaube allerdings auch, in der Gesellschaft.

Als Persönlichkeit, die wirklich für die Schwächsten Partei ergreift - ohne Bedingungen. Das fehlt, das fehlt uns ganz konkret in der Emmaus-Bewegung, und es fällt mir auf - in Deutschland gab es ja nie so viele Emmaus-Gesellschaften, wir sind fast unbekannt, was man für Frankreich in keinster Weise sagen kann. Aber vor 20 Jahren hatten wir schon mal auch in der Politik Freunde, die uns mal zugehört haben. Heute hört gar keiner zu. Heute hört einfach keiner zu! Die soziale Frage ist nicht auf der Tagesordnung zurzeit.

Westhuis: Er fehlt. Eine Figur wie Abbé Pierre, der an diesem Wochenende vor 100 Jahren geboren wurde. Das war Willy Does von der Emmaus-Gemeinschaft in Köln. Herzlichen Dank für das Gespräch.

Does: Ich danke auch!

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