Der Untergang hat Konjunktur

08.08.2013
Ein Beitrag zur Psychopathologie des Kapitalismus: Jan Distelmeyer weist erstaunliche Parallelen zwischen den Fantasien des Kinos und vielen Medienberichten zur Finanzkrise nach. Hier wie dort ein irrationales Mantra von Metaphern, um die Krise als Naturkatastrophe zu deuten.
Der Untergang hat Konjunktur. Jan Distelmeyer entdeckt das Phänomen in Popsongs und Musikvideos von Britney Spears, Big Sean, Lana del Rey und vielen anderen. Sogar der offizielle Song des DFB anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2012 zelebrierte diffuse Katastrophenstimmung, wundert sich der Potsdamer Medienwissenschaftler.

Er fühlt sich nicht allein mit seiner Spurensuche, denn Kulturdeuter und Künstler greifen den neuen Hype begierig auf. Vermutlich angespitzt von der Maya-Legende, die das Weltende für den 21. Dezember 2012 vorausphantasierte, veranstalten sie Kongresse und Events unter solch heimeligen Schlagzeilen wie Don’t panic! The Apocalypse in Theory and Culture.

Zeit für Jan Distelmeyer, das Kino der neuen Welle unter die Lupe zu nehmen. Seine anschauliche Studie "Katastrophe und Kapitalismus" zeichnet sie am Beispiel von I am Legend, Doomsday, 2012 und zwei Dutzend weiteren Blockbustern sowie Arthouse-Filmen à la Melancholia, Perfect Sense oder 4:44 Last Day on Earth nach, begnügt sich indes nicht mit der Phänomenologie der Erdbeben, Feuersbrünste, Tsunamis, Tornados, Epidemien oder untoten Bestien, die im digital erzeugten Kino möglichst schaurig den totalen Weltuntergang einläuten. Vielmehr sucht Jan Distelmeyer nach analogen medialen Konstrukten, die als wirkmächtige Hintergrundgeräusche den Alltag der Individuen in der westlichen Welt beeinflussen.

Nervenkitzel bringt der Unterhaltungsindustrie Milliarden ein
Katastrophen, so viel ist klar, versprachen vom sicheren Kinosessel aus schon immer Kitzel und brachten der Unterhaltungsindustrie Milliarden ein. Den Autor beschäftigt die neue globale Totalität der Desaster, vor allem der tiefe Nihilismus, der die Erzählstruktur der aktuellen Genrebeispiele infiziert hat. Zum Vergleich zieht er 70er-Jahre-Klassiker wie Earthquake, Airport 77 oder Mörderspinnen heran, in denen das Unheil noch topografisch begrenzt erschien.

Star-Ensembles unter Führung eines Helden führten darin tapfer vor, dass Katastrophen menschliche Bewährungsproben darstellen und das coole Alpha-Tier die finale Rettung ermöglicht. Heute, so das Resümee, ist die Frage eher, "wann es alle erwischt haben wird und was bis dahin noch zu tun ist." Woher der trübe Konsens, dem unausweichlichen Countdown ausgesetzt zu sein? Woher der Masochismus, mit dem sich Filmfiguren der "Totalität des Katastrophalen" unterordnen?

Die Studie ist ein bemerkenswerter Beitrag zur Psychopathologie des Kapitalismus. Distelmeyer zeigt erstaunliche Parallelen zwischen den Katastrophenphantasien des Kinos und zahlreichen visuell aufbereiteten Medienberichten zur Finanzkrise auf. Beide bemühen ein peinlich irrationales Mantra von Metaphern, die die Krise als undurchschaubare, alles verschlingende Naturkatastrophe deuten.

Nicht als Verschwörung einzelner Schurken sondern als "dominante Fiktion" einflussreicher Wirtschaftstheoretiker, Marktliberaler und Politiker beschreibt er das Dilemma. Die Wirklichkeit ist zum "falschen Film" geworden, der Markt zur Schicksalsmacht verunklart. Das Kino, meint die Studie, spiegelt und vergrößert die Grundstimmung gefühlter Ohnmacht.

Besprochen von Claudia Lenssen

Jan Distelmeyer: Katastrophe und Kapitalismus – Phantasien des Untergangs
Bertz + Fischer Verlag Berlin 2013
138 Seiten, 9,90 Euro