Der unbewusste Geist

12.05.2012
In seinem neuen Buch verknüpft David Brooks die Lebensgeschichten eines fiktiven Paares mit Sachwissen aus Psychologie und den Neurowissenschaften. So will er aufzeigen, wie stark menschliches Handeln von unbewussten Prägungen bestimmt wird.
Harold wächst in einem begüterten Elternhaus auf. Ericas Vorfahren wanderten als arme Leute aus China und Mexiko ein. Über die Standesunterschiede hinweg verlieben sich die beiden ineinander, heiraten, altern gemeinsam - bis eines Tages ihr letztes Stündlein schlägt. Zwischendrin pulsiert das pralle Leben: Nähe und Entfremdung, berufliche Höhenflüge und Demütigungen, Alkohol und Seitensprünge, Konflikte und Versöhnung.

In seinem neuen Buch "Das soziale Tier" verzahnt David Brooks die Lebensgeschichten eines fiktiven Paares mit Sachwissen aus Psychologie, Neurowissenschaften und Evolutionsbiologie. Seinen Protagonisten bis in die intimsten Regungen folgend, möchte er zeigen, wie umfassend menschliches Handeln durchtränkt wird von unbewussten Prägungen, Leidenschaften und Ängsten.

David Brooks zeigt sich als versierter und sprachlich souveräner Sachbuchautor. Er kennt sie alle - die spannenden Studien und verblüffenden Experimente. Von Forschern erzählt er, die an der Qualität elterlicher Fürsorge erkennen können, ob ihre Kinder die Schule abbrechen werden oder nicht. Von der Sehnsucht nach "Limerenz" erzählt er, dem innigen Wunsch, mit anderen zu verschmelzen. Die folgenreiche Prägung durch die Sprache ist ihm wichtig: Sprecher des stark geografisch orientierten "Tzetal"-Idioms in Mexiko kann man mit verbundenen Augen zwanzigmal um die eigene Achse drehen und sie wissen immer noch, wo sich Osten und Westen befinden.

Philanthropisch und gefühlsbetont kommt das Buch David Brooks' daher, vom amerikanischen Publikum geliebt und hoch gelobt von Kritikern. Warum nur? Es wimmelt darin von rückwärts gewandten Botschaften, die der Autor geschickt in seinen virtuellen Biografien versteckt. Erica aus der Einwandererfamilie findet nach einer Kindheit des Laissez-faire ihre schulische Erfüllung in der "Academy", einer fiktiven Drill-Schule, die ihr endlich beibringt, was Leistung und Normerfüllung bedeuten. Sie erlebt das wie eine Erleuchtung und macht als erfolgreiche Unternehmensberaterin ihren Weg. Harolds Lebensentscheidungen wurzeln zu weiten Teilen, so meint der Autor, in seinem Level an Testosteron.

So reichhaltig die Lebenspfade dieser Figuren sich präsentieren: Sie bleiben Papier, am ideologischen Reißbrett ersonnen. Es fehlt ihnen das warme Fleisch und Blut, die Tiefe und Anmut des echten Lebens. Wer aufmerksam schaut, kann erkennen, wie David Brooks die gängigen Argumentationsmuster der Soziobiologie bedient: Er gießt konservative politische Ideologie in biologische Begrifflichkeiten und speist sie, als angebliche wissenschaftliche Wahrheit, in den sozialpolitischen Diskurs zurück.

Gefühlsbetont und Biologie versessen, am Menschen interessiert und elitär, zukunftsoffen und starr die alten Zuschreibungen für Mann und Frau, unten und oben, wir und die Fremden betonend - David Brooks möchte alles zugleich. Das füllt sechshundert Seiten, unterhaltsam und opulent. Das Buch ist gleichwohl nur mit Vorsicht zu genießen.

Besprochen von Susanne Billig

David Brooks: Das soziale Tier. Ein neues Menschenbild zeigt, wie Bezeihungen, Gefühle und Intuitionen unser Leben formen
DVA, München 2012
600 Seiten, 24,99 Euro
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