Der unbekannte Munch

Von Thomas Senne · 03.08.2007
Einblicke in bislang eher wenig bekannte Werke des Malers Edvard Munch (1863-1944) gewährt die Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall in den nächsten Monaten. Das Haus rund 80 Gemälde sowie weitere 80 Zeichnungen und druckgrafische Arbeiten aus allen Schaffensperioden des norwegischen Künstlers. Munch gilt als einer der Vorläufer und Begründer des Expressionismus.
Kein "Schrei" in Schwäbisch Hall: Das wohl berühmteste Motiv des norwegischen Malers fehlt in dieser grandiosen Schau. Also keine Figur, die ihr Leiden an der Welt, ihre existentielle Not, mit weitaufgerissenem Mund an einer Brücke in ein gespenstisches Nichts hinausbrüllt.

Bewusst hat man auf dieses Bild verzichtet, um sich von Klischees zu lösen und den Blick frei zu machen auf den anderen, den bisher unbekannten Munch. Und den gibt es auf 2600 Quadratmetern und mehreren Etagen in der Kunsthalle Würth reichlich zu entdecken: Eine Fülle bislang gar nicht oder nur selten gezeigter Gemälde und - viele neue Erkenntnisse. 0.40

Dieter Buchhart: "Es gibt eine ganze Reihe von neuen Gemälden, die zum ersten Mal gezeigt werden, wie zum Beispiel die zweite Version der 'Strandmystik', eine wunderbare Gewitterlandschaft von der Jahrhundertwende. Es gibt zahlreiche Gemälde, die hier neu zu entdecken sind. Es gibt dadurch aber auch einen anderen Munch zu entdecken, nämlich jenen, der einen Weg gewählt hat, sich mit dem Material intensiv auseinander zu setzen, viel zu experimentieren und keine traditionellen Grenzen zu respektieren"."

Und damit meint Ausstellungsleiter Dieter Buchhart auch Edvard Munchs Vorliebe, Druckgrafiken solange zu übermalen und zu verändern, dass ihr ursprünglicher Zustand unter den verschiedenen Gouache-Schichten nicht mehr erkennbar bleibt - die Gattungsgrenzen zwischen Grafik und Malerei verschwimmen.

Gerne unterzieht der Künstler auch seine Gemälde einer sogenannten "Rosskur", tritt und traktiert sie, kämpft mit ihnen und beschädigt sie oder setzt sie gar den Naturgewalten aus, damit Wind und Wetter an ihnen nagen können. Dieses Vorgehen ist zum einen sicher Resultat verschiedener Daseinskrisen des Norwegers, zum anderen aber auch der Versuch, in ästhetisches Neuland vorzudringen: Experimente mit ungewissem Ausgang, bei denen das Scheitern immer auch billigend mit in Kauf genommen wird.

Bei einem jetzt gezeigten Mädchenporträt von 1886 ist zum Teil die nackte Leinwand zu sehen, von der zuvor die Farbe wieder heruntergekratzt wurde. Auf einem anderen, nur ein paar Jahre später entstandenen Ölgemälde lehnt sich eine Frauengestalt an eine Balustrade, deren gemalte Strukturen an den Rändern von Wasser- und Verwitterungsspuren in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Munch präsentiert sich in Schwäbisch Hall als ein ästhestischer Neuerer, als ein Vorläufer der Moderne, die erst in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit vergleichbarer Radikalität, ja Brutalität, ihren Werken gegenübertritt.

""Das Moderne ist das Experiment. In den 80er-Jahren attackiert er die Farbschichten, kratzte in die Farbschichten. Das Moderne ist das Verschmelzen von Figuren, also auch eine ganz neue Motivik, das Auslaufen in den Hintergrund, das Überschneiden des Bildrandes. Der Holzschnitt mit seiner Holzmaserung, wo die Holzmaserung zum eigentlich tragenden Element wird. Das geschieht das erste Mal bei Munch bis hin zur Auflösung im Spätwerk"

Ganz wie es Munch einst gefiel kontrastiert die Präsentation frühere und neuere Arbeiten, stellt sie einander gegenüber, um die stilistische Entwicklung des Malers zu dokumentieren. Beispielsweise bei der Werkgruppe des roten Hauses. Handelt es sich anfangs nur um ein in die Natur eingebettetes Anwesen, wird das Motiv mit der Zeit immer stärker emotional aufgeladen.

Die barbusige, lasziv blickende "Madonna", eine Ikone der Kunstgeschichte, die zum Teil in Sprühtechnik gefertigt wurde, ist in der Ausstellung ebenso vertreten wie die radikalste Version von "Das kranke Kind", einem Bild, das einst in der Kunstwelt wegen seines stilistischen Nonkonformismus und fragmentarischen Charakters für Empörung sorgte.

Viele im Kuss zur Einheit verschmolzene Liebende sind an den Wänden der Kunsthalle zu entdecken, aber auch Blätter, auf denen Eifersucht thematisiert wird. Beispielsweise, wenn eine verführerische Schöne mit kupferrotem Haar und tief ausgeschnittenem Kleid nach vorne blickt und die vor Gram in sich zusammengesunkene männliche Gestalt in Schwarz neben sich gar nicht zu bemerken scheint. "Asche", so der Titel dieser handkolorierten Lithografie.

Natürlich begegnen uns in der Kunsthalle all die Themen, für die Munch so bekannt ist - Krankheit, Einsamkeit, Liebe, Eros und Tod -, doch auch heitere Bilder von impressionistischer Leichtigkeit und hellem Kolorit. Etwa eine Strandszene aus Nizza mit flanierenden Passanten auf der Promenade des Anglais. Bei "Badende Mädchen" von 1895 - einem der seltenen Pastelle des Norwegers - bekommen die in Blautönen schwebenden Wolken und herumpaddelnden Figuren etwas Zeichenhaftes.

Noch deutlicher wird diese symbolistische Komponente bei Baumbildern und Meeresspiegelungen, wenn vertikale Bäume als Chiffren für die Aufwärtsbewegung gen Himmel fungieren. Oder: Wenn sich Sonne und Mond im Wasser spiegeln und zu zeichenhaften Lichtstelen werden.

Überraschend, wie lange sich Munch oft seinen Motiven widmet und manchmal noch nach über 20 Jahren wieder damit beginnt, bereits vollendete Holzschnitte erneut zu bearbeiten, um weitere Varianten zu erstellen. Work in progress.

Die Schau in Schwäbisch Hall arbeitet auch klar heraus, welche Rolle Fotografie und Film im Oeuvre des Meisters spielen, der mit seiner Kamera ab und zu Schnappschüsse machte, die jetzt ergänzend als kleinformatige Schwarzweißaufnahmen zu sehen sind. Kurator Dieter Buchhart über die damals noch neuen technischen Medien:

"Die spielen eine sehr wichtige Rolle. Weil Munch hat Film und Fotografie tatsächlich in seine Bilder übertragen. Munch gelang es beispielsweise, Doppelbelichtung in Gemälden tatsächlich darzustellen, Close-ups darzustellen, Bewegung darzustellen, und auch: sich mit dem Film auch so auseinander zu setzen, und es so in die Leinwand zu übertragen, dass sie wirklich das Gefühl haben, es geht um Film"

Der mehrteilige "Reinhardt-Fries" für die Berliner Kammerspiele, benannt nach dem berühmten Regisseur Max Reinhardt, rundet zusammen mit zahlreichen Porträts und Akten diese exquisite Schau über einen Künstler ab, der sich immer wieder neu erfunden hat. Der Weg nach Schwäbisch Hall lohnt sich.

Service:
Die Ausstellung "Edvard Munch - Zeichen der Moderne" ist bis zum 16. Dezember 2007 in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall zu sehen.