Der unbekannte Dritte

Egal, ob auf 8000 Meter Höhe im Himalaja, allein im Boot bei der Pazifiküberquerung, ausgesetzt in den Eiswüsten des Nordens oder im Urwald des Amazonas, bei Erdbebenkatastrophen und beim Attentat am 11. September 2001 in New York: Immer wieder gibt es Berichte von Menschen, die in Situationen überlebt haben, in denen man keinen roten Heller mehr auf sie gesetzt hätte. Was ist das Geheimnis des Überlebens?
Der Kanadier John Geiger ist nicht nur Buchautor, sondern auch Ehrenmitglied der Königlichen Kanadischen Geographischen Gesellschaft und des sogenannten Explorers Clubs. In seiner Freizeit unternimmt er Touren nach Grönland und in die Arktis – auf den Spuren der Entdecker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts; Entdecker, die monatelang in der Kälte und Dunkelheit überleben mussten und oft auch nur knapp dem Tode entkamen.

Beim Lesen derer Reiseberichte fiel ihm eines auf: Oft war dort von einer sogenannten Präsenz die Rede. So berichtete Ernst Shackleton, der mit seinen Männern in der Antarktis einfror, in einem kleinen Boot 1600 km über das Südpolarmeer segelte und dann mit zwei Männern die vergletscherte Insel Südgeorgien durchquerte, dass er ständig das Gefühl gehabt habe, es sei eine vierte Person mit ihnen gewesen – seinen beiden Begleitern ging es ebenso, wie sich später herausstellte.

Im Englischen wird diese Präsenz eines unbekannten Wesens als "Third Man Factor" bezeichnet, deutsch übersetzt als Schutzengelfaktor. Geiger geht der Frage nach, woher dieser unbekannte Dritte kommt.

Für Gläubige ist das keine Frage: Ein katholischer Überlebender des 11.-September-Attentates spricht ganz simpel von seinem Schutzengel, Wissenschaftler vermuten andere Ursachen: Monotonie, wie sie Menschen extrem erfahren, die Eiswüsten oder Meere durchqueren, scheint solche Präsenzen hervorzurufen. Das Hirn, das keine neuen Impulse von außen und von Dritten bekommt, schafft sich seinen Dritten selbst.

Witweneffekt nennt ein anderer Wissenschaftler seine These. Diese besagt, dass sich das Unterbewusstsein oder Hirn von jemandem, der einen unmittelbaren Verlust erlitten hat, einen neuen tröstenden und hilfreichen Kameraden schafft, um den erlittenen Verlust zu kompensieren und weiter funktionstüchtig zu bleiben. An der Universität in Lausanne haben Wissenschaftler solche Präsenzen auch durch elektronisches Stimulieren des Gehirns hervorgerufen.

John Geiger listet noch mehr Theorien oder Vermutungen psychologischer und physiologische Art auf, ohne sich selbst für eine zu entscheiden – was kein Schwachpunkt des Buches, sondern eher eine Stärke ist.

Trotzdem: Am Ende war ich mit Geigers Buch nicht ganz glücklich. Es ist nicht schlecht geschrieben, aber es umfasst 300 Seiten, und Geiger reiht einen Katastrophenbericht an den nächsten: Jemand gerät in Bedrängnis, überlebt und berichtet danach von einem ihm unbekannten Dritten, der ihn begleitete, ihm Mut zusprach, ihm half oder alles gleichzeitig tat. Vier oder fünf ausführliche Berichte hätten gereicht, Geiger bemüht gefühlte 200, und ab dem vierten wusste ich dann schon, wie der nächste endet. Überraschung Fehlanzeige. Wäre da Buch halb so dick, es wäre doppelt so gut.

Besprochen von Günter Wessel

John Geiger: Der Schutzengel-Faktor. Das Geheimnis des Überlebens in Extremsituationen
Aus dem Englischen von Karina Of
Malik Verlag, München 2009
304 Seiten, 19,95 Euro