Der überdehnte Kontinent

Von Raphael Krüger |
Warum fällt es ausgerechnet den Europäern so schwer, die territoriale Reichweite der EU abzustecken? Definieren heißt Abgrenzen. Das tun gerade offene Gesellschaften ungern. Sie leben in der Überzeugung, dass alles im Fließen ist und Grenzen jeder Art nur dazu da sind, überwunden zu werden.
Europa befindet sich somit in einem gründlichen Dilemma, das durch die Gleichzeitigkeit von europäischer Erweiterung und Vertiefung noch verschärft wird. Im Ergebnis befindet sich die EU auf dem Weg zur raumgreifenden Staatenversammlung mit Hang zur behördlichen Allzuständigkeit. Der Unwille, sich selbst zu beschränken, ist zum zentralen europäischen Problem geworden. Die Frage, wo Europa endet, gilt als geradezu anstößig. Beantworten wir sie trotzdem.

Warum Russland politisch kein Teil Europas ist, zeigten die jüngsten Feierlichkeiten zum 750jährigen Jubiläum von Königsberg. Statt die Nachbarn Polen und Litauen mit ihren Staatsoberhäuptern einzuladen, weilten Jacques Chirac und Gerhard Schröder zum Empfang. Wladimir Putin wünschte in imperialer Manier Gäste auf Augenhöhe, also Schwergewichte von europäischem und wenigstens Mittelgewichte von internationalem Rang. Die unmittelbaren Anrainer der russischen Ostsee-Exklave gelten als minderwertig und noch dazu unbotmäßig. Vom grundlegenden Prinzip der Gleichrangigkeit aller demokratisch verfassten Staaten ist Moskau so weit entfernt wie der Bodensee vom Baikalsee. Umso rückhaltloser stützt der Kreml den weißrussischen Despoten Lukaschenko. Solange dieser regiert, bleibt sein Land jedoch von einer EU-Kandidatur ausgeschlossen.

Umso lauter klopft die Ukraine an, wo unlängst die alte Sowjetgarde von den Schalthebeln der Macht verschwand. Für das Land betätigt sich vor allem Polen als eifriger Europa-Advokat. Auch wirbt Warschau wie kein zweiter für den raschen EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens, liebäugelt überdies mit weiteren EU-Anwärtern vom Balkan bis nach Georgien. Zum einen beruht dies auf echter Solidarität mit den von Europa Ausgegrenzten, besonders den ehemaligen Sowjetrepubliken. Andererseits will Polen nicht auf Dauer östliches Grenzland der EU bleiben, Bundesgenossen gegen Moskau sammeln und sein Gewicht in Europa mehren. Aufgrund seiner Größe und Geschichte wähnt sich Warschau als natürliches Gravitationszentrum im Osten. Selbst die Beitrittsbemühungen der Türkei stehen hier hoch im Kurs, hatte das Osmanische Reich doch die Teilungen Polens nie anerkannt.

Dass man sich bei diesem Thema nicht nur mit Washington, sondern mit der noch amtierenden Berliner Regierung einig weiß, klingt fast unglaublich. Das Kabinett Schröder könnte die Folgen dieses Beitritts problemlos selbst studieren, so es einen Spaziergang vom Spreebogen in die türkischen Großgemeinden von Berlin-Wedding, Kreuzberg oder Neukölln unternähme. Ausgerechnet in Frankreich, dem engsten Partner der Bundesregierung, organisiert sich starker Widerstand gegen diese Art neudeutscher Orientpolitik. Er beruht freilich weniger auf eigenen Erfahrungen mit der gescheiterten Integration nordafrikanischer Einwanderer. Statt der deutschenfreundlichen Türkei favorisiert die "Classe politique" hinter den Kulissen das frankophile Tunesien oder Marokko. Verschleiernd spricht man von der mediterranen oder afrikanischen "Dimension" Europas.

Wer die Zukunft der EU an Nordafrika, den Balkan, Kaukasus oder Vorderen Orient bindet, will primär den eigenen Einfluss vergrößern, und die mit einer EU-Außengrenze verbundenen Unannehmlichkeiten abgeben. Vorteile werden nationalisiert und Lasten europäisiert, auch wenn dies die EU bis in den Saharasand und in die Steppen Zentralasiens vorschiebt. Dabei wird schlicht ignoriert, dass die EU auf Jahre hinaus keine neuen Mitglieder verträgt, soll ihre Integrationskraft nicht völlig erlahmen. Was junge, labile Nationen aus eigener Anstrengung nicht leisten, kann auch die EU nicht in wundersamer Weise bewirken, schon gar nicht im Duzend - nämlich Staaten mit allgegenwärtiger Korruption und alltäglichem Faustrecht bei sich aufnehmen und ganz nebenbei zivilisieren. Die EU ist keine Schule der Nationalstaaten, sondern immer noch deren Produkt.

Das Europa der 25 ist mit den gescheiterten Referenden in Frankreich und Holland sowie den geplatzten Finanzverhandlungen sichtbar an seine Grenzen gelangt – in seiner inneren Struktur wie äußeren Gestalt. Ein guter Europäer begreift, dass die gerade ein Jahr zurückliegende Mammuterweiterung um gleich zehn Mitglieder das gesamte Gefüge an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht hat. Es hat den Streit um Wege und Ziele Europas noch unlösbarer gemacht. Verschlungene Vertragswerke und findige Verfahrensweisen bieten keinen Ausweg. Gesucht werden klare Antworten auf zwei europäische Kardinalfragen: Wer gehört der EU bis auf weiteres an, und was müssen ihre Mitglieder unbedingt gemeinsam regeln? Von der Finalfrage, was Europa sein will, schweigen wir lieber.

Raphael Krüger: Historiker und Publizist, 1963 in Berlin geboren, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Slawistik an der Freien Universität, dann in Krakau und London. Mehrere Stipendien und Arbeiten zu Mittel- und Osteuropa führten ihn nach Krakau, Warschau, Budapest und Bukarest. Er schreibt für mehrere Tageszeitungen, vor allem für DIE WELT, sowie für historische und politische Fachzeitschriften. Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch über Polen.