Der Tsunami aus den Bergen

Von Julio Segador |
Am 12. Januar kam über Nacht der große Regen und der große Schrecken in das Urlaubsparadies im bergigen Hinterland von Rio de Janeiro. Auch anderthalb Monate später sind die Menschen wie betäubt und überblicken nur langsam die Tragweite des Unglücks.
Nadja Rosa und ihr Mann Bernardo bürsten und waschen den Schlamm von den alten Möbeln ab. Dicker brauner Schlamm, der sich in alle Ritzen der Schränke, Tische und Stühle förmlich reingefressen hat. Mit Wasser bekämpfen die beiden die Folgen der gigantischen Wassermassen, die eine ganze Region in Brasilien ins Unglück gestürzt haben.

Eine ganze Nacht regnete es in der "Serrana", dem bergigen Hinterland von Rio de Janeiro. So viel Regen, wie ihn die Bewohner der Region noch nie erlebt haben. In nur acht Stunden fiel die Wassermenge eines ganzen Monats. Irgendwann klingelte auch Nadjas Telefon.

"Jemand hat uns in der Nacht angerufen. Er meinte, in der Lagerhalle würde eingebrochen. Es gebe so viel Lärm dort. Aber es war kein Einbrecher. Das Wasser verursachte den Lärm. Wir hatten keine Zeit mehr etwas zu retten. Nichts. Rein gar nichts."

Das Wasser kam aus den Bergen und nahm alles mit, was sich ihm in den Weg stellte. Nadja und Bernardo wohnen in Itaipava, am Ende des Tales. Die Schlamm- und Gerölllawinen, die Trümmer, einfach alles landete bei Ihnen. Sie bekamen die Tragödie des Tales vor die Haustür gespült, erzählt Bernardo.

"Hier hinten hat man drei Leichen gefunden, tote Pferde, zerrissene Kleidung, jede Menge Sachen. Unsere Tochter dachte am Tag darauf, dass da eine Puppe im Schlamm wäre. Sie zog sie an den Haaren heraus, aber es war eine Mädchenleiche. Unsere Tochter bekam Panik, zitterte am ganzen Körper."

Nadja zeigt die Halle, in der die antiken Möbel bisher gelagert hatten. Stühle, Tische, Schränke haben sich zu einem undurchdringlichen Holzknäuel zusammengeschoben. Dazwischen Bäume, Kleidung und Schlamm. Es riecht modrig nach nassem Holz. Manchmal hilft da nur noch die Motorsäge. Ob Nadja und ihr Mann ihr Antiquitätenlager noch einmal aufbauen können, steht in den Sternen. Dauern wird es auf jeden Fall.

"Mindestens vier Monate. Und ob der Zivilschutz es zulässt, dass wir hier weitermachen ? Die Fabrik hat´s ganz schön erwischt."

Je weiter es in das Tal von Cuiabá geht, desto schlimmer wird es. Die üppig bewachsenen, tief grünen Berghänge sind durchzogen von ziegelroten Schneisen. Ganze Hänge sind an diesen Stellen abgerutscht, konnten den Wassermassen, die niedergingen, nicht mehr standhalten. Die gigantische Lawine aus Schlamm und Stein riss alles mit, sogar schwere Stahlbetonbrücken.

Luiz Otávio hat sein Häuschen direkt an einer Brücke. Das Haus steht noch, von der Brücke gibt es nur noch die zwei Enden. Der tonnenschwere Stahlbeton konnte der Gerölllawine nicht trotzen.

"Der Fluss stieg unheimlich schnell an. Viele Autos trieben vorbei, und alles, was man sich denken kann. So gegen Mitternacht fing es an, irrsinnig heftig zu regnen. Da stieg der Fluss bereits an. Um kurz nach vier bin ich dann raus aus dem Häuschen, weckte meine Frau, und dann stürzte schon die Brücke ein."

Noch nie in seinem Leben fühlte sich Luiz Otávio so hilflos. Ohne eine Chance, anderen zu helfen.

"Autos, Kühlschränke trieben vorbei, Pferde, Menschen, die um Hilfe riefen. Ich hörte ihre Stimmen. Aber wir sahen nichts, es war stockdunkel, es gab keinen Strom. Fürchterlich."

Mit schwerem Gerät versucht die Regierung die Folgen der Naturkatastrophe in den Griff zu bekommen. Aus dem gesamten Bundesstaat Rio de Janeiro sind Bagger und Lastwagen in die Bergregion im Nord-Westen von Rio beordert worden. Pausenlos werden Straßen frei geräumt, Trümmer beiseite geschafft, Wege begehbar gemacht.

Szenenwechsel von Cuiabá nach Nova Friburgo. Eine Stadt, in der einzelne Viertel von den Schlamm und Gerölllawinen ebenfalls völlig verwüstet worden sind. Pausenlos steigen Helikopter aus der Kaserne der Militärpolizei auf. Hier landete auch Staatspräsidentin Dilma Rousseff, als sie nur zwei Tage nach dem Unglück ins Krisengebiet flog.

Die noch junge brasilianische Regierung ist kalt erwischt worden. Nicht einmal zwei Wochen nach ihrem Amtsantritt steht Brasiliens Regierungsmannschaft der größten Naturkatastrophe gegenüber, die das Land in der jüngeren Geschichte getroffen hat. Dilma Rousseff ist schockiert, nachdem sie sich per Hubschrauber einen Eindruck vom Ausmaß des Unglücks verschafft hat.

"Das ist tatsächlich ein sehr dramatischer Moment. Das waren sehr harte Bilder, die wir gesehen haben, das Leiden der Menschen ist unübersehbar. Und noch immer ist das Risiko sehr hoch. Aber alle können sicher sein, dass die Regierung mit dem Bundesstaat Rio de Janeiro und den Stadtverwaltungen gut zusammenarbeitet. Wir haben bereits Geld für die betroffenen Gebiete zur Verfügung gestellt. Und dieses soll auch schnellstmöglich und unbürokratisch an die Menschen weiter gereicht werden. Wir müssen zuerst an die brasilianische Bevölkerung denken."

Die schweren Erdrutsche als Folge der heftigen Regenfälle sind zweifelsohne eine Naturkatastrophe, mit der man nicht rechnen konnte. Und doch sind die tragischen Folgen hausgemacht. In den vergangenen Jahrzehnten sind die Täler in der Bergregion nördlich von Rio de Janeiro dicht besiedelt worden. Viele Cariocas, wie die Bewohner der Zuckerhut-Metropole genannt werden, bauten sich in den engen Schluchten Wochenenddomizile, um der hektischen Großstadt zu entfliehen. Die Häuser wurden zur Todesfalle.

In Städten wie Pedrópolis oder Teresópolis gibt es noch einen weiteren Grund für die hohe Zahl an Opfern. Wie in fast allen brasilianischen Städten sind die Hügel mit Favellas dicht besiedelt. Kaum ein Hang, der nicht mit Armensiedlungen regelrecht bewachsen ist. Die illegal gebauten und nur notdürftig befestigten Hütten rutschen als erste ab. Der Gouverneur des Bundesstaates Rio, Sergio Cabral, fordert entsprechende Konsequenzen.

"Diese Region wurde in den letzten 25 bis 30 Jahren sehr dicht besiedelt. Wenn man sich die Statistik der Toten in diesen Städten ansieht, wird man feststellen, dass mehr als die Hälfte dieser Menschen hätte gerettet werden können, wenn man die illegalen Bebauungen verhindert hätte. Dass es trotzdem Tote gegeben hätte, ist klar, und natürlich hätte es auch Erdrutsche gegeben. Aber wir haben diese Zahl an Toten nur aufgrund der Verantwortungslosigkeit der illegalen Bebauung in den Städten. Das ist eine Tatsache."

Erstaunlich, aber es regt sich wieder Leben im Tal von Cuiabá. Jorge Luiz sortiert in einem Häuschen die Post. Zum ersten Mal nach der Unwetterkatastrophe ist der kleine Mann mit dem blauen Arbeitsanzug wieder unterwegs. Das Gebiet, wo er die Briefe verteilt, ist das gleiche wie immer – und doch ist nun alles ganz anders.

"Mein Alltag wird sich völlig verändern. Früher lief alles glatt. Die Häuser standen, der Zugang dorthin war leicht. Nun gibt es viele Hindernisse, die zerstörten Brücken, der Staub, alles steht im Weg. Ich kenne hier so ungefähr jeden, ich nehme die Post einfach mal mit, danach gehe ich vielleicht in die Notunterkünfte."

Für Jorge Luiz ist das Unglück nur schwer zu ertragen. Gerade als Postbote kannte er so gut wie jeden. Immer wieder unterhielt er sich mit den Leuten. Da wurde gescherzt, über Fußball debattiert, getratscht.

"Am schlimmsten ist, dass ich hier lebe und arbeite und alle kenne. Manche sind meine Freunde. Ich schätze, dass nun nur noch 30, höchstens 40 Prozent der Post ankommt. Aber so ist das Leben, man muss weitermachen, auch wenn es schwierig ist."

Die Fahrt von Cuiabá nach Teresópolis ist gespenstisch. Rechts und links von der Fahrbahn türmt sich meterhoch, was die Bagger an die Seite geräumt haben. Tonnenschwere Felsbrocken, völlig demolierte Autos, Kleidung, Stühle, Tische, Plüschtiere, Baumstämme, Schuhe, und immer wieder Unmengen an Schlamm.

Trupps von Arbeitern versuchen, schwere Pfosten in die Erde zu rammen. Die gesamte Infrastruktur entlang der Strecke muss neu aufgebaut werden. Als erstes geht es darum, die Stromversorgung wieder herzustellen, sagt Ignazio. Der Arbeiter schwitzt in der schwülen Luft. Er und die anderen müssen jetzt unter Hochdruck anpacken, was nicht einfach ist.

"Wir müssen hier alles neu aufbauen, bei Null beginnen. Hier ist alles komplett zerstört. Dazu kommt, dass der Untergrund schwierig ist. Es gibt viele Steine, manche Stellen sind noch überschwemmt. Aber wir kommen gut voran. Unsere Planung ist, bis Ende der Woche bis zur Posada zu kommen."

Es geht weiter auf der Straße - oder was davon übrig geblieben ist - nach Teresópolis. Die Bilder gleichen sich, auch wenn dahinter völlig unterschiedliche Schicksale stecken. Das Urlaubsparadies wurde für die Menschen im Tal und an den Hängen zur Todesfalle. Überall sind die Verwüstungen zu sehen, und überall versuchen sich die Leute mühsam zu organisieren.
In der Kleinstadt Vieira steht Lehrerin Lucia vor der Kirche. Das Gotteshaus ist zum Lagerraum umfunktioniert worden. Lebensmittelspenden und Kleidung stapeln sich bis an die Tür. Eigentlich haben die Kinder noch Ferien. Lehrerin Lucia möchte aber möglichst bald mit dem Unterricht beginnen.

"Einige Schulen haben bereits geöffnet, damit die Kinder in einer Gemeinschaft sind. Diejenigen, die ihre Angehörigen verloren haben, brauchen einen Bezugspunkt, Freunde, Lehrer, damit das Leben weitergehen kann. Und wir betreuen sie psychologisch. Es wäre schon gut, wenn die Schule möglichst bald wieder beginnt. Die Schulbehörde hat das jedenfalls vor."

Lucia dürfte als Lehrerin im verwüsteten Städtchen Vieira vor ihrer schwersten Aufgabe stehen. Mit den Kindern über die Katastrophe reden. Sie will die Gelegenheit nutzen, um ihren Schülern einiges mit auf den Lebensweg zu geben.

"Wir werden im Unterricht über die Ereignisse und Verluste sprechen, zumal auch viele meinen, es sei eine Strafe Gottes gewesen. Was es natürlich nicht war. Natürlich war es ein Naturphänomen. Und wir haben ja auch etwas dazu beigetragen. Das hat Auswirkungen. Da müssen wir ansetzen."

Der Tsunami aus den Bergen hat den Menschen ihre Familien genommen, ihr gesamtes Hab und Gut, hat sie obdachlos gemacht. Im Gemeindehaus der Pfarrei Sao Cristovao in Teresópolis sind viele von ihnen gestrandet. Den Kindern scheint es zu gefallen.

Es ist supergut, meint das eine Mädchen, hier gibt es so viele Spielsachen.
Und die anderen zählen auf, was sie so alles machen: Rutschen, Seilspringen, malen, Boot spielen, zeichnen.

Pater Thiago de Freitas lächelt, als er auf die Kinder blickt. Den Kleinen scheint es im Notaufnahmelager gut zu gehen, zumindest ihnen. Um die Großen macht er sich da schon mehr Sorgen.

"Die Menschen hier wurden evakuiert, weil es zu gefährlich war, weiter in den Häusern zu bleiben. In einer ersten Phase waren sie wie betäubt. Nun, in einer zweiten Phase, werden hier viele richtiggehend depressiv. Sie reden kaum noch, sind traurig und angeschlagen. Da müssen wir vor allem psychologische Hilfe leisten."

66 Familien sind in dem Gemeindesaal untergebracht. Alles, was den Menschen geblieben ist, haben sie hierher gebracht. Es ist nicht viel. Der Boden des Saales ist bedeckt mit Matratzen, zwei Ventilatoren versuchen die schwüle, muffige Luft zu vertreiben, was kaum gelingt. Einige Frauen liegen auf den Matratzen. Eine von ihnen ist Graciane da Concecao. Die 24-Jährige trägt ein kleines Kind auf dem Arm Sie hat in der schicksalhaften Nacht der Flutwelle sieben Familienmitglieder verloren.

"Mir geht es hier gut, Gott sei Dank. Wir sind gut aufgenommen worden. Die Kinder haben alles, was sie brauchen, und auch wir haben alles. Wenn wir Hunger haben, gibt es immer etwas zu essen. Wir bekommen Kleidung und Schuhe. Nichts fehlt."

Die Männer, Frauen und Kinder in dem Notaufnahmelager müssen einen strengen Tagesplan einhalten. Um 7 Uhr aufstehen, um 8 Uhr Frühstück, ab 9 wird geputzt, um 12 Uhr gibt es Mittagessen. Auch wenn Graciane sich wohl fühlt in dem Lager. Sie denkt an die Zukunft, und daran, wie es weitergehen wird.

"Ich warte jetzt, ob sie uns helfen können. Und ich warte darauf, was Gott mit uns vorhat. Eines weiß ich: Ich werde nicht zurückkehren. Es war der reine Terror. Ich kehre nicht zurück."

Viele, wie Graciane, die Familienmitglieder und ihr gesamtes Hab und Gut in den Schlamm- und Gerölllawinen verloren haben, denken ähnlich. Und sie blicken auf den Staat - ob der ihnen jetzt etwas anbieten kann? Bisher hat die Politik auf die Unwetterkatastrophe schnell reagiert. Fast 2000 Tonnen Hilfsgüter wurden in die Krisenregion geschickt. Von privaten Spendern und vom Staat. Die Vorgabe der neuen Staatspräsidentin Dilma Rousseff, schnell und unbürokratisch zu helfen, wurde erfüllt. Nun steht die finanzielle Hilfe für die Opfer an, und die Umsiedlung in sichere Wohnungen. Bis zu umgerechnet 250 Euro sollen diejenigen, die ihre Wohnungen verloren haben, monatlich bekommen, ein Jahr lang, verspricht der Sozialminister des Bundesstaates Rio de Janeiro, Rodrigo Neves. Doch das ist nicht alles:

"Ich betone, so wie es die Regierung bereits angekündigt hat, dass bald schon alle, die nun in Notunterkünften leben müssen, registriert werden. Und mit Hilfe dieser Datenbanken, die entstehen, wollen wir die psychologische Betreuung der Opfer organisieren. Und die Leute zudem in Sozialwohnungen unterbringen."

Es wird die erste Bewährungsprobe sein, für Brasiliens neue Staatspräsidentin Dilma Rousseff.

Dilma Rousseff will Luiz Carlos Lopez lieber nicht vertrauen. Dazu kennt er sein Land zu gut. Und er lacht.

"Das ist nicht Deutschland hier, das ist Brasilien. Versprechen gibt es viele. Reden tun auch alle. Bisher ist hier nichts angekommen. Und es hieß: Hilfe sollte schon Tagen anrücken. Dann in dieser Woche. Eine Unterstützung für Geschäftsleute wie mich, die alles verloren haben. Aber es kam nichts. Da kann man nur abwarten. Mehr kann man nicht tun."

Luiz Carlos Lopez ist – vielmehr – war Besitzer einer Fabrikhalle, in der Marmor bearbeitet wurde. Einige seiner Mitarbeiter wuchten Marmorplatten auf einen LKW. Das, was von den großen, schweren Platten übrig geblieben ist. Bruch - mehr ist es nicht. Luiz Carlos Lopez steht in Shorts und einem luftigen roten Hemd daneben, schaut seinen Leuten zu, gibt ab und an kurze Kommandos. Er schüttelt den Kopf.

"Wir haben nie geglaubt, dass so etwas möglich wäre. Man kann es auch nicht erklären. Dort stand ein Zaun, dahinter war der Fluss. Er war an dieser Stelle nur eineinhalb Meter breit, man konnte drüber steigen, und er war höchstens zwei Hand breit tief."

Der Fluss hat das Lebenswerk von Luiz Carlos Lopez zerstört. Eine gigantische Schlammlawine, die sich von Nova Friburgo aus durch das Tal wälzte, riss den Betrieb mit. Die Halle, so groß wie ein Fußballfeld, ist weg, der Unternehmer steht nun buchstäblich vor dem Nichts. Und lächelt dabei fast:

"Ich fühle mich so, als ob nichts passiert wäre. Ich bin hier, räume den Schutt weg. Ich denke, ich habe das alles noch nicht realisiert. Schlimm ist es morgens – ich hatte ja meine tägliche Routine. Zuerst habe ich das andere Geschäft aufgeschlossen, dann die Halle hier. Und jetzt komme ich hier an und es ist nichts mehr da."

Wie so viele in der "serrana", diesem wunderschönen Gebirge nördlich von Rio de Janeiro, will Luiz Carlos Lopez nicht aufgeben. Der Tsunami aus den Bergen hat ihm fast alles genommen, - nur sein Leben und sein Lebenswille sind ihm geblieben. Darauf baut der Unternehmer aus Nova Friburgo auf.

"Du lächelst ja noch, meinen viele. Denen sage ich: Leider ist das die Realität, wir können nichts mehr machen. Da muss man jetzt durch. Und das Leben weiterleben."