Der Traum vom normalen Leben

Von Stefan Heinlein · 07.11.2011
Auf dem Straßenstrich in der tschechischen Hauptstadt bieten mehr als 2000 Männer ihre Dienste an. Das private Projekt "Sance" ist ihre einzige Möglichkeit, an eine Dusche und eine warme Mahlzeit zu kommen. Doch die Hilfsorganisation hat selbst keinen festen Wohnsitz.
Gleis 2 am Prager Hauptbahnhof. Der Schnellzug aus Ostrau ist eingefahren. Die Reisenden hasten mit ihren Rollkoffern in Richtung Ausgang. Hinter einer Säule in der frisch renovierten Eingangshalle wartet Michal auf Kunden. Vor zehn Jahren kam er als 15-Jähriger aus einem kleinen Dorf in die Hauptstadt. Seither lebt er auf Straße und verkauft sich an Männer.

"Die Herren suchen uns. Sie wissen ganz genau, wo wir auf dem Hauptbahnhof stehen. Sie kommen zu mir - fragen nach dem Preis und kaufen mich. Oft verabreden wir uns dann noch einmal für den nächsten Tag."

Michal hat seine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Er trägt eine verwaschene Jeans und ein sauberes T-Shirt. Nur seine gelben Zahnreihen mit den vielen Lücken erzählen vom harten Leben auf der Straße. Im Bahnhofskaffee wartet Lazlo auf seine Kinder - wie er sie nennt. 1995 hat er angefangen, sich um die Straßenkinder zu kümmern. Jedes Jahr steigt die Zahl der obdachlosen Jugendlichen. Sein Projekt "Sance" ist jedoch das einzige Hilfsangebot für die über 2000 männlichen Straßenprostituierten in Prag.

"Ich besuche die Jungens zwei- bis dreimal pro Woche. Ich verteile Kondome und berate sie, wie sie sich vor Krankheiten schützen können. Außerdem habe ich ein kleines Zimmer direkt am Wenzelsplatz. Dort bekommen die Jungens ein kleines Essen, es gibt eine Dusche und eine Waschmaschine."

Die finanzielle Unterstützung von der Stadt fließt nur spärlich. Früher gab es ein Haus am Prager Stadtrand. Dort konnte zumindest ein Teil der jungen Männer übernachten. Vor Jahren wurde der Mietvertrag plötzlich gekündigt. Seither ist Lazlo auf der Suche nach einer neuen Unterkunft. Seine Briefe an die Stadtpolitiker und die Regierung werden nicht beantwortet, beklagt er. Die Senatoren und Abgeordneten machten die Augen zu und ignorieren das Problem in der Touristenhochburg Prag.

"Wir leben nur vom guten Willen der Menschen - vor allem viele Künstler helfen uns."

Fast alle Kinder von Lazlo kommen aus Heimen oder wurden von ihren Eltern in frühen Jahren auf die Straße gesetzt. In seinem winzigen Büro am Wenzelsplatz gibt Lazlo den jungen Männern kreative Beschäftigung. Sie malen Bilder und basteln bunte Papiertaschen. Für Michal ist dies seit Jahren der erste kleine Schritt in ein normales Leben ohne Prostitution:

"Ich träume davon, dass ich mit meinen Bildern den Menschen Freude mache. Ich wünsche mir, dass die Leute sehen, dass ich mit meinen Händen schöne Dinge machen kann. Ich will nicht mehr als Prostituierter leben - ich wünsche mir so ein Leben wirklich nicht mehr."

Doch am Abend steht Michal wieder am Bahnhof und wartet auf Kunden. Er braucht Geld für eine warme Mahlzeit und die Drogen, ohne die er die Männer nicht ertragen kann. Fünf bis zehn Euro für den schnellen Sex in der Bahnhofstoilette, 20 Euro für die Begleitung ins Hotel. Der Traum vom normalen Leben wird auch heute Nacht für Michal nicht in Erfüllung gehen.
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