Der Todeskuss des reichen Juden

Von Stefan Keim |
Wäre Rainer Werner Fassbinder nicht der große Kinoregisseur, wären seine Stücke – vielleicht mit Ausnahme von "Katzelmacher" – längst vergessen. Auch die Mülheimer Produktion von "Der Müll, die Stadt und der Tod" wird keine Theaterrenaissance der Texte auslösen.
Erstmals erhoben jüdische Menschen in Deutschland vereint die Stimme. Sie verhinderten 1985 die Uraufführung des Theaterstücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder. Die Figur des "reichen Juden", eines gewissenlosen Immobilienmaklers, sei antisemitisch, sagten sie. 14 Jahre später scheiterte ein zweiter Versuch, den Text auf eine deutsche Bühne zu bringen, diesmal in Berlin. Nun lief die Uraufführung im Mülheimer Theater an der Ruhr, eine ganz normale Premiere, mit großem Medieninteresse, aber ohne Demonstrationen und Bühnenbesetzungen.

Im Vorfeld hatte es auch in Mülheim Proteste vom Zentralrat der Juden und der jüdischen Gemeinde gegeben. Doch schon bei einer Diskussionsmatinee waren die Theaterleute unter sich geblieben, der große Entrüstungssturm blieb aus. Er hätte auch beim genauen Betrachten des Stückes wenig Grundlage gehabt. Denn Fassbinder legt die antisemitischen Sprüche durchweg unsympathischen Figuren in den Mund. Oder dem Juden selbst, der sich selbst hemmungslos zynisch beschreibt, aber auch Momente hat, in denen die Schreckensgeschichte seines Volkes durchschimmert: "Ich lächle oft bei dem Gedanken an den Tod", sagt er, "Was bleibt uns übrig."

Man muss das Stück nicht inszenieren. Die Theatergeschichte braucht es nicht. Diese hysterische Zusammenballung von Gossensprache und Gemeinheit provoziert heute nicht, sie nervt nur. Allerdings hat Roberto Ciulli einen Weg gefunden, "Der Müll, die Stadt und der Tod" nicht nur erträglich zu machen, sondern den Text sinnvoll in einen spannenden Abend einzubinden. In seinem Projekt "Fassbinder" zeigt er zunächst das frühe Stück "Nur eine Scheibe Brot", das Fassbinders Mutter nach seinem frühen Tod im Küchenschrank entdeckte. Darin geht es um einen Kinoregisseur, der an der Aufgabe verzweifelt, einen Film über den Holocaust zu drehen. Hans Fricke, so heißt der Mann, glaubt sich selbst nicht, erschrickt, weil er nicht den nötigen Ernst aufbringt. Schließlich bekommt er Angst, weil er – um den Film glaubwürdig zu drehen – das Grauen an sich heran lassen und so fühlen müsste wie die Massenmörder.

Simone Thoma spielt Hans Fricke, eine seltsame Schauspielerin voller Manierismen. Kein Satz kommt direkt aus ihrem Mund, die Worte klingen verfremdet, sie tanzt mehr als dass sie geht, eine enthobene Kunstfigur. Mit kaum verändertem Kostüm verkörpert sie dann auch den reichen Juden, lässt sich in einem Sarg über die Bühne fahren, demütigt spielerisch die Untergebenen. Die Kombination dieser Rollen nimmt der umstrittenen Figur jeden Ansatz des Antisemitischen. Ciulli zeigt, dass sich Fassbinder damit auseinander setzt, wie jüdische Menschen nach dem Holocaust ehrlich darstellbar sind. Aus der Verzagtheit und Furcht des Regisseurs erwächst der Sprung ins Klischee, das Fassbinder als Groteske überzeichnet und ausstellt.

Roberto Ciulli geht es allerdings nicht primär um eine Ehrenrettung Fassbinders. Er inszeniert die von latenter Gewalt brodelnden Texte als bittere Analyse der Gegenwart. Die Sprache ist nahe an ihrer Zerstörung angelangt, hinter den Begierden sind kaum noch Gefühle erkennbar, rücksichtslos und unerbittlich kämpft jeder gegen jeden. Ciulli beschreibt mit seinem ausgezeichneten Ensemble eine kalte Zeit.

Eine passt nicht in diese Sphäre, eine weißhäutige, blonde, reine Erscheinung. Carlotta Salamon, eine Schülerin aus dem Jugendclub des Theaters an der Ruhr, spielt die junge, lungenkranke Hure Roma B. - ein Engel, der schließlich vom "reichen Juden" freiwillig den Todeskuss empfängt, weil im Müll der toten Stadt kein Platz für ihn ist. Die Szene touchiert den Kitsch, aber das passt zu Fassbinder, dem Neuerfinder des deutschen Kinomelodrams.

Im dritten Stück, "Blut am Hals der Katze", liegt Simone Thoma unter einem Beatmungszelt. Sie heißt nun Phoebe Zeitgeist, ist von irgendwo her zu den Menschen gekommen und versteht ihre Sprache nicht. Sie schnappt einzelne Sätze auf, erfährt Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit, Mord. Schließlich küsst sie mit ihrem vergifteten Lippenstift die ganze Gesellschaft tot. Ciulli lässt die Schauspieler oft als Schatten hinter Leinwänden agieren, was gespensterhaft wirkt und manchmal garstig komisch.

Roberto Ciulli sieht Fassbinder in der Tradition Ödön von Horváths. Da beschreibt einer in den 60er- und 70er-Jahren mit rabiaten Mitteln die Ausweglosigkeit im Leben der Menschen und macht da keinen Unterschied zwischen gut verdienenden Bürgern und dem Prekariat. Alle sind sie der emotionalen Verwahrlosung anheim gefallen. Wer sich nicht passgenau ins System einfügt, wird mitleidlos aussortiert. Der "reiche Jude" hat das durchschaut und macht mit, aber er ist der einzige, der noch ein Gespür für Reinheit hat und deshalb Roma B. unterstützt. "Es soll sich für Sie lohnen, lungenkrank zu sein." Diesen Satz wiederholt er oft im Lauf des Abends, die junge Hure ist sein kleines Widerstandsprojekt inmitten einer kriminellen Gesellschaft.

Wäre Fassbinder nicht der große Kinoregisseur, wären seine Stücke – vielleicht mit Ausnahme von "Katzelmacher" – längst vergessen. Auch die Mülheimer Produktion wird keine Theaterrenaissance der Texte auslösen. Aber Roberto Ciulli und sein Team holen sehr viel aus den oftmals platten Texten heraus, meiden exzessive Gewalt- und Sexdarstellungen, entwickeln eine traurig-poetische Reflexion menschlicher Kälte. Ob "Der Müll, die Stadt und der Tod" ein antisemitisches Stück ist, fragt nach dieser Aufführung keiner mehr.

Service:
"Der Müll, die Stadt und der Tod"
Theater an der Ruhr, Mülheim
9., 10., 15. Oktober, 6., 7., 20. November