Der Tod ist "Teil unserer Lebensreise"

Andreas Dresen im Gespräch mit Frank Meyer · 16.11.2011
In Andreas Dresens aufwühlendem, neuen Film erfährt ein Familienvater Mitte 40, dass er in wenigen Monaten sterben wird. Wir wollten in "Halt auf offener Strecke" nichts beschönigen, es aber nicht düsterer malen, als es ist, sagt der Regisseur. Jeder Mensch müsse sich früher oder später mit dem Sterben auseinandersetzen.
Susanne Führer: Morgen kommt der neue Film von Andreas Dresen in unsere Kinos, "Halt auf freier Strecke". Darin geht es um das Sterben, und der beginnt sofort mit der Diagnose für die Hauptfigur: Hirntumor.

O-Ton Filmausschnitt:

Arzt: Also das ist ein Tumor, der von seiner Lokalisation in einem Gebiet, wo sehr, sehr wichtige Hirnfunktionen sind, ... also wenn man da operieren würde, das würde zu sehr, sehr schlimmen Ausfällen führen. Also das ist sozusagen die ... noch eins drauf, die schlimmere Geschichte noch, ja.

Frank: Was ist denn mit so einer Krankheit für eine Lebenserwartung?

Arzt: Kann man nicht genau sagen so, also das ist jetzt nur so vorausgeschickt, wenn man die Operation nicht zur Verfügung hat, so wie es also bei Ihnen jetzt der Fall ist, dann sind es so durchschnittlich so mehrere Monate, um die es hier geht, bis dann irgendwann wieder mal der Tumor durchbricht. Also das ist schon ziemlich bösartig. Haben Sie Kinder auch?

Simone: Zwei Kinder.

Arzt: Und wie alt sind die?

Simone: 14 und 8. Sagt man denen das?

Arzt: Ja, das muss man den Kindern auch sagen.

Simone: Muss man denen sagen?

Arzt: Mmh.

Simone: Was sagt man da? Wie es ist?

Arzt: Ja, was ich Ihnen so erzählt habe, dass man im Prinzip so eine Krankheit jetzt festgestellt hat bei ihrem Vater. Was sie wissen wollen, muss man ihnen dann eben mitteilen. Ich glaube, das, was man wissen will, das verkraftet man auf irgendeine Weise auch.

Frank: Das heißt dann im Prinzip, den 10. Geburtstag von meinem Sohn werde ich dann nicht mehr ...

Arzt: Mmh.

((O-Ton Ende))

Führer: Das war ein Ausschnitt aus dem Film "Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen. Sie haben dort Steffi Kühnert und Milan Peschel gehört, die beiden Hauptdarsteller, und auch den Arzt, der die Diagnose mitteilte.

Mein Kollege Frank Meyer hat mit Andreas Dresen über diesen Film gesprochen, über diesen harten Film, der ja seinen Zuschauern viel abverlangt. Und warum, wollte Frank Meyer dann von Dresen wissen, ist es richtig, den Menschen im Kino solch einen Film zuzumuten?

Dresen: Also wenn das Kino ein Ort für existenzielle Geschichten und die Grundfragen unseres Lebens ist – wovon ich mal ausgehe –, dann gehört dazu lieben, leben und auch sterben, und dann sollte man darüber auch sprechen. Und ich finde, in unserem Alltag sind Probleme, die mit sterben, mit dem Tod zu tun haben, sowieso zu Unrecht ausgegrenzt, weil das ist nun mal ein Teil unserer Lebensreise und das eint alle Menschen: Arm, reich, alle sozialen Schichten hinweg müssen sich früher oder später damit auseinandersetzen, ob Verwandte sterben, Freunde sterben, Eltern sterben oder wir auch irgendwann selbst natürlich gehen müssen.

Und ich finde, da kann es nicht schaden, sich damit mal auseinanderzusetzen und das nicht immer nur wegzuschieben und wegzudrängen, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist.

Frank Meyer: Wie ist Ihnen das Thema denn selbst nahegekommen? Gab es da einen Auslöser, diesen Film jetzt zu machen?

Dresen: Na ja, es ist ja manchmal so, dass man über Jahre hinweg an Projekten arbeitet und sie sich dann Schritt für Schritt entwickeln. Und hier war es eher so, dass der Film, kann man schon so sagen, zu mir gekommen ist, ja, manche Filme wollen einfach plötzlich gemacht werden, man weiß gar nicht, wie so was kommt. Das sind dann häufig Produktionen, die sehr schnell entstehen. Und hier war es halt so, dass ich schon durch eine ziemlich schwere Trennung ziemlich erschüttert war, Abschiedsschmerz war als Grundierung schon da.

Und dann kam dazu, dass in meinem Freundeskreis der Tod Einzug hielt, das hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich jetzt langsam auf die 50 zugehe, meine Freunde zwangsläufig auch, und dann tritt das Thema an einen heran und man muss sich damit auseinandersetzen. Und es wurde Thema in Gesprächen, wir haben uns oft darüber unterhalten und auch darüber dann unterhalten, weil es ja nun mal unsere Arbeit ist, ob es darüber und so, wie wir das erfahren und erlebt haben, überhaupt im Film eine Reflexion gibt, die uns angemessen erscheint.

Und wir haben dann angefangen, uns Filme anzuschauen und festgestellt, dass den Film, den wir selber sehr gerne drehen würden, dass es den in dieser Form noch nicht gibt. Und damit begann dann eigentlich die Arbeit.

Meyer: Und über diese Arbeit haben Sie gesagt, Sie hätten unterwegs mal den Eindruck gehabt, Sie halten das eigentlich nicht mehr aus, dieses Filmprojekt. Was war das für ein Punkt? Was war da passiert?

Dresen: Na ja, das war alles in allem schon mehr als ein Filmprojekt, würde ich sagen. Für mich war es eher wie eine Reise, und ich glaube, es ging vielen aus dem Team auch so, und auch den Schauspielern. Wir haben sehr lange recherchiert, wir haben Leute aus Hospizbewegungen getroffen, Ärzte, aber auch Menschen, die Verwandte verloren hatten, die ähnliche Situationen erlebt hatten wie die, die wir im Film erzählen, und das waren teilweise für mich sehr nachhaltige und erschütternde Begegnungen, wo man nicht so ohne Weiteres wieder danach in den Alltag zurückkehren konnte.

Mich hat das tagelang, wochenlang beschäftigt und ging mir nach. Und das sind wahrscheinlich Dinge, die man so im Unbewussten ablagert, an die man im Alltag nicht gerne rührt, diese Türen macht man nicht gerne auf, aber wenn man sie dann öffnet, dann ereilt es einen schon mit ganzer Kraft. Und so ging es mir dann. Ich fühlte mich ein bisschen wie so unter einer Glocke. Und wir haben dann tatsächlich vergangenes Jahr im Sommer recht lange darüber gesprochen, ob wir das Projekt nicht doch lieber sein lassen, ob uns das alles in allem gut tut, das zu machen.

Ich bin dann aber zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht doch gut wäre, den Weg, den man einmal begonnen hat, auch zu Ende zu gehen. Und im Nachhinein muss ich sagen – und zwar gar nicht in erster Linie deswegen, weil der Film jetzt existiert, sondern wegen mir selbst – bin ich eigentlich ganz froh, dass das dann doch gemacht wurde und zustande gekommen ist. Und es wurde später auch immer leichter.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, Andreas Dresen ist bei uns im Studio, wir reden über seinen neuen Film "Halt auf freier Strecke". Es ist ein besonderes Thema, es ist auch ein besonderer Film in dem Sinne, dass er auf besonderen Wegen entstanden ist. Darüber würde ich gerne auch mit Ihnen sprechen. Wenn wir mal auf den Anfang schauen: Der Film beginnt ja mit voller Wucht, ohne Hinführung, ohne Schonfrist für den Zuschauer.

Man sitzt sofort im Sprechzimmer eines Arztes und hört ihm zu, wie er einen, ja, praktisch, Todesurteil ausspricht. Frank erfährt dort, dass er diesen Tumor im Kopf hat, der nicht mehr operiert werden kann, der in Monaten zum Tod führen wird. Dieser Arzt wird nun nicht gespielt, das ist ein echter Mediziner, Uwe Träger, ein Neurochirurg aus Potsdam. Warum haben Sie sich dafür entschieden, da mit einem echten Arzt zu arbeiten, der diese Erfahrung auch jeden Tag macht?

Dresen: Das hat einfach damit zu tun, dass die Berufserfahrung dieses Mannes oder der Mediziner in dem Film generell, muss ich sagen – wir haben ja alles medizinische Personal mit Leuten besetzt, die das als Beruf ausüben, die sich da also auskennen. Das hat damit zu tun, dass meine Fantasie einfach gar nicht so groß ist, mir vorzustellen, wie so etwas abläuft.

Also ich hätte mich in der Verlegenheit befunden, einem Schauspieler erklären zu müssen, wie so ein Gespräch abläuft, wie man sich da verhält. Und ich dachte, es ist in jedem Fall gut, mich und auch die Schauspieler einer Erfahrung auszusetzen, die wir nicht kennen, und uns in die reale Situation rein zu begeben, an eben diesem Tisch, vor diesem Computermonitor. In dem gleichen Raum finden diese Gespräche dieser Art drei-, viermal die Woche statt, und natürlich weiß Uwe Träger sehr gut und sehr wohl, was er da tut und wie er das tut. Und für mich war das auch durchaus überraschend, ich habe es ja auch zum ersten Mal vor der Kamera dann live miterlebt, wie er das gemacht hat, und ich fand das eine ganz beeindruckende Mischung aus Sachlichkeit und Empathie.

Er hat hinterher dann auch gesagt, er hat die Kamera komplett vergessen. Ich habe sie allerdings auch vergessen, muss ich sagen, weil ich so involviert war. Das hat wie gesagt damit zu tun, dass hier die Realität ganz massiv in eine fiktive Situation, die von uns ja hergestellt wurde, reindrängt.

Meyer: Es gibt noch eine zweite echte Ärztin in dem Film, die Palliativärztin Petra Anwar. Die kommt dazu, als die Situation schon sehr ernst geworden ist, als Frank schon kaum noch etwas selbst tun kann, im Bett liegt, Hilfe braucht, die Situation in der Familie schon sehr kritisch geworden ist, und da kommt Petra Anwar dazu, und ich fand diese Frau so ungemein beeindruckend, weil sie mit so einer liebevollen Entschiedenheit klar macht in dem Film: Diese Qual, die das alles auch ist, die hat einen Sinn, weil es wichtig ist, jemanden im Sterben zu begleiten – für beide, für den Sterbenden und für seine Angehörigen, für seine Familie.

War das der Grund, auch diese Haltung dieser Frau, dass Sie sie dabeihaben wollten in dem Film?

Dresen: Also ich finde sie wie so einen großen, Sicherheit gebenden Engel, wie sie da reinkommt in die Wohnung. Sie ist eine extrem kraftvolle, humorvolle, vitale, emotionale Frau, und sie hat eine Haltung in so einer Situation, die auf so eine gesunde Art pragmatisch und Sicherheit gebend ist, dass man sich bei ihr einfach anlehnen kann, und es ist so eine Selbstverständlichkeit, mit diesem Thema umzugehen auch, und das ist ein irrsinniger Beruf, finde ich. Und dabei diese Kraft und diese Lebenslust zu behalten, finde ich sehr bewundernswert, und das kommt eben natürlich durch ihre innere Haltung zum Tod.

Und dadurch, dass sie eben dafür einsteht, dass Menschen zu Hause sterben, nimmt sie dem Tod auch teilweise den Schrecken, finde ich, weil wenn man sich das mal anguckt: Dass wir so viel Angst davor haben, hat ja doch damit zu tun, dass der Tod aus unserem Alltag verschwunden ist. Noch vor nicht mal 100 Jahren haben drei Generationen in einem Haus gelebt, und wenn Opa dann gestorben ist, dann waren die Kinder selbstverständlich auch dabei, und die konnten dabei zuschauen, die konnten bei ihm sein, sie konnten ihn anfassen, und er lag dann noch eine Nacht meistens dort, war aufgebahrt.

Das alles gibt eine Vertrautheit und eine Selbstverständlichkeit und auch einen Schutzraum, mit diesen Dingen des Lebens umzugehen, den wir heutzutage oft gar nicht mehr haben. Wir schieben ja alle Dinge, die früher im familiären Umfeld waren, häufig ab, sei es die Betreuung der Kinder als auch der Alten und eben auch den Tod.

Meyer: Das ist die eine Seite, die man mit dem Film erlebt, diese Nähe zum Sterben zuzulassen, auch zu erfahren, dass das wichtig ist für diese Familie. Die andere Seite ist aber auch, dass man eben sieht, wie schmerzvoll das ist. Und ich muss sagen, als ich diesen Film gesehen habe – ich habe auch Angst bekommen vor diesem Vorgang des Sterbens, weil man sieht, wie dieser Mann sich quält, wie er die Kontrolle auch über sich verliert, wie er sich verändert, ins Zimmer seiner Tochter pinkelt, weil er nicht mehr weiß, wo das Klo ist in dem Haus und all diese Dinge. Ist das auch eine Angst, die sie transportieren wollten, die einfach dazugehört, diese Angst vor der letzten Reise?

Dresen: Das ist die Realität. Nicht in allen Fällen natürlich – manche Menschen haben das Glück und fallen einfach um, und bei anderen dauert es länger und ist auch mit Schmerzen verbunden. Wir wollten nichts beschönigen, aber wir wollten es auch nicht düsterer malen, als es ist. Es gibt in Deutschland ja ein großes soziales Netz. Und letztendlich ist es natürlich eine Reise in die Dunkelheit: Wir sind plötzlich mit dem Schicksal konfrontiert, das ist ja keineswegs alltäglich, wenn man mit Mitte 40 so eine Nachricht bekommt, aber es ist Schicksal, und das ist etwas, dem wir uns ungern stellen, weil es so auch als höhere Gewalt daherkommt.

Also man könnte jetzt sagen: Hat Frank Lange zu wenig gejoggt? Hat er zu wenig Bio gegessen? Nein, er hat ganz gesund und ganz normal gelebt, und trotzdem hat er diesen blöden Tumor bekommen, und das ist etwas, mit dem wir schwer umgehen können. Und wir als Menschen müssen uns solchen ausweglosen Situationen stellen und zusammenrücken dann, und das ist das, was diese Familie versucht. Und wenn wir das dann schaffen, haben wir die Chance, den Tod auch als etwas Lichtes zu erleben, als etwas, was uns auch zusammenführt in einem höheren Sinn, und der Film endet keineswegs schwarz. Und das Sterben ist ein sehr harter und teilweise schmerzhafter Prozess, auch im psychischen Sinne schmerzhaft, aber der Tod selbst ist etwas sehr Befreiendes, fast Helles.

Ich habe viel angefangen, als wir den Film gemacht haben, über mein eigenes Leben nachzudenken, und dass man häufig so die Dinge, die man gerne hat, die man gerne macht, so auf irgendwann später verschiebt. Wie oft sagt man zu Freunden irgendwie: Ah, wir rufen uns dann mal an, und dann treffen wir uns – und dann finden diese Treffen ja nie statt. Und das sind alles Dinge – in dem Moment, wenn man sich mit der Endlichkeit unserer Existenz beschäftigt –, die kriegen dann doch in gewisser Weise ein anderes Licht.

Führer: Sagt der Regisseur Andreas Dresen im Gespräch mit meinem Kollegen Frank Meyer. Und die Kritik des Films "Halt auf freier Strecke" hören Sie nach halb vier hier, also in einer knappen Viertelstunde, und Ihr Umgang mit Sterben und Tod ist heute das Thema in unserer Debatte um zehn vor vier, Sie können anrufen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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