Der Tod als Erlösung

Moderation: Liane von Billerbeck |
Vor zehn Jahren ermöglichten die Niederlande als erstes Land der Welt die straffreie aktive Sterbehilfe für unheilbar kranke Patienten. Während immer mehr Bürger die Hilfe in Anspruch nehmen wollen, verweigern sich die Ärzte zunehmend, sagt die Journalistin Kerstin Schweighöfer.
Liane von Billerbeck: Es ist zehn Jahre her, als das niederländische Parlament ein Gesetz zur Kontrolle der Tötung auf Verlangen verabschiedete. Seitdem ist dort aktive Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen straffrei möglich. Viele hatten befürchtet, dass durch dieses Gesetz viel mehr schwerkranke oder leidende Menschen ihrem Leben mittels Spritze oder Giftbecher ein Ende setzen lassen würden. Ob das stimmt, darüber will ich jetzt mit Kerstin Schweighöfer sprechen, die seit Jahren aus den Niederlanden berichtet und die Debatte um die Tötung auf Verlangen verfolgt hat. Frau Schweighöfer, ich grüße Sie!

Kerstin Schweighöfer: Schönen guten Tag!

Billerbeck: Sind die Befürchtungen eingetroffen, entscheiden sich viel mehr schwerkranke Niederländer für aktive Sterbehilfe?

Schweighöfer: Ja und nein – also der befürchtete Dammbruch ist zunächst ausgeblieben, bis 2006 sind die Zahlen stabil geblieben, sogar ein bisschen gesunken. Es kamen jedes Jahr so ungefähr um die 2.000 Fälle von Sterbehilfe in den Niederlanden, das ist ein Prozent aller Todesfälle hier, aber in den letzten drei Jahren ist eben auffallend eine Steigung zu bemerken, da ist es sogar über 3.000 geklettert, und für 2011 – die Zahlen sind noch nicht ganz raus, werden sogar fast 4.000 erwartet. Also das ist doch eine Steigung von 16 Prozent dann gegenüber des Vorjahres, aber das wird eben darauf zurückgeführt, dass die Baby-Boom-Generation jetzt eben ins Rentenalter gekommen ist, auch mit Krankheit und Tod konfrontiert wird, und diese Generation gilt ja als besonders mündig, und die sagt, wir haben unser ganzes Leben lang Regie gehabt über unser Leben, wir wollen die Regie jetzt auch beim Sterben nicht abgeben.

Billerbeck: Wenn Sie die zehn Jahre mal Revue passieren lassen, seit es dieses Gesetz in den Niederlanden gibt: Hat sich der Umgang in der niederländischen Gesellschaft denn grundlegend verändert mit Krankheit und Tod, weil es eben diese Möglichkeit am Lebensende gibt?

Schweighöfer: Die wichtigste Änderung, glaube ich, dass es für viele Patienten, für viele Bürger ganz einfach ein Recht geworden ist, auf das sie pochen können, und sie glauben eben auch, sie pochen auf dieses Recht, und der Arzt hat dann zu spuren und zu gehorsamen und auch die Sterbehilfe zu leisten. Und dem ist eben nicht so, es ist kein Recht, auf das man pochen kann, und der Arzt hat das Recht, nein zu sagen, ich tue das nicht. Und es gibt auch 17 Prozent aller Ärzte, die lehnen Sterbehilfe aus prinzipiellen Gründen hier ab. Und andere lassen es manchmal in der Grauzone, wissen nicht genau, ob sie es tun – also man kann keinen Arzt zwingen. Das ist eigentlich die wichtigste Entwicklung, dass es für die Patienten einerseits zu einem Recht geworden ist – sie sagen: Doktor, ich will jetzt Sterbehilfe, helfen Sie mir – und dass die Ärzte doch eigentlich zunehmend auf die Bremse treten und sagen, wir leisten das nicht einfach so.

Billerbeck: Nun weiß ja jeder, der einen alten oder schwerkranken Angehörigen oder Freund schon mal gepflegt hat, dass das eben keine Entscheidung ist, die man mal so eben zwischen zwölf und mittags trifft, sondern eine Entscheidung, die lange reift und meistens einen langen Leidensweg hinter sich hat. Trotzdem die Frage: Gewöhnt sich eine Gesellschaft an diese Tötungen, wenn es so ein – wie dieses – relativ liberales Gesetz gibt?

Schweighöfer: Ja, ich denke schon. Die Holländer waren immer, die sind immer sehr viel tabufreier. Es gibt einen wichtigen Kulturunterschied eigentlich auch zwischen Deutschland und den Niederlanden: Die Niederländer wollen immer Klarheit haben, es muss etwas transparent sein, sie wollen eben nicht, dass etwas heimlich geschieht. Die gesamte Gesellschaft hier, darf man auch nicht vergessen … es ist ja ganz oft so, dass etwas, was eigentlich verboten ist, in den Niederlanden erlaubt wird. Das fing damals mit der Abtreibung an, das wurde auch geduldet, dann darf man nicht vergessen die weichen Drogen zum Beispiel, die sind auch nach wie vor illegal, der Konsum von Hasch und Marihuana wird ja auch nur geduldet unter bestimmten Bedingungen.

Und genau auf dieser Linie liegt dann eben auch der Sterbehilfeparagraf: Es ist verboten, es sei denn, dass … Das ist den Holländern lieber, und die sagen, es passiert ja doch, aber dann heimlich, wir wollen, dass es in Offenheit geschieht, dass wir es kontrollieren können, und dass die Ärzte sich eben nicht mehr wie ein Verbrecher fühlen müssen, wenn sie Sterbehilfe leisten, und dass der Patient den Arzt nicht mehr um ein Verbrechen bitten muss, wenn er Sterbehilfe bekommen möchte.

Billerbeck: Nun haben Sie gesagt, dass 17 Prozent der Ärzte diese Tötung auf Verlangen, also aktive Sterbehilfe, weiterhin ablehnen. Vermutlich berufen sie sich ja auf ihren hippokratischen Eid, nach dem sie Leben retten und Leiden lindern sollen. Aber müssten sie nicht auch nach diesem hippokratischen Eid eben sich gerade bestätigt fühlen durch dieses Gesetz, weil sie ja Leiden lindern, auch mittels Sterbehilfe?

Schweighöfer: Das sagen eben die Befürworter der Sterbehilfe. Also die meisten Ärzte, die sie leisten, die sagen, manchmal gibt es keine andere Möglichkeit, das Leiden meines Patienten zu lindern, als eben durch den Tod, anders geht es nicht. Und ja, ich merke schon auch, dass Ärzte, die gegen Sterbehilfe sind, einen schweren Stand hier haben, weil sie sind in der Minderheit. Und wie gesagt, der mündige niederländische Bürger denkt: Ich habe das Recht darauf, ich möchte entscheiden können, wie ich sterbe, wieso stellt dieser Mann sich quer? Also es ist nicht ganz leicht für Ärzte, ihren Standpunkt klarzumachen, wenn man prinzipiell Gegner ist, aber die allermeisten sind dann doch eben – und das wird von ihnen auch erwartet – dass sie von vornherein klar machen: Ich mache das nicht, aber ich gebe Ihnen Zeit genug, sich einen anderen Arzt zu suchen, der das sehr wohl macht.

Billerbeck: Trotzdem ist es ja so, dass man einen zweiten Arzt hinzuziehen muss – das ist ja dann möglicherweise ein Arzt, der diesen Patient eben nicht jahrelang kennt. Besteht nicht darin schon eine Gefahr?

Schweighöfer: Nein, es ist eigentlich eine Kontrollinstanz, was sehr gut funktioniert. Auch ein zweiter Arzt muss hinzugezogen werden, ein unabhängiger Arzt, der auch ganz klar diagnostizieren kann: Dieser Mensch, dieser Patient leidet unerträglich, es gibt wirklich keine Aussicht auf Genesung, dieser Mensch hat mehrfach laut und deutlich gesagt, ja, Doktor, ich will sterben, da ist kein Druck von Angehörigen – also das ist schon wichtig, dass dieser zweite Arzt als Kontrollinstanz sozusagen hinzugezogen wird und genau feststellen kann, da stimmt alles. Und dann erst darf Sterbehilfe geleistet werden, und danach muss der Fall auch noch einer Kontrollinstanz gemeldet werden, regionalen Prüfinstanzen, und die prüfen jeden einzelnen Fall nochmals auf Herz und Nieren, und die entscheiden dann: Muss es an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden oder nicht? Also so einfach geht es wirklich nicht, das ist ganz kompliziert, Checks 'n' Balances, ob es da mit rechten Dingen zugeht, dass Missbrauch so gut wie ausgeschlossen ist.

Billerbeck: Deutschlandradio Kultur – zehn Jahre nach Inkrafttreten des liberalsten Sterbehilfegesetzes der Welt in den Niederlanden spreche ich mit Kerstin Schweighöfer, die die Debatten darüber in den Niederlanden verfolgt. Wie laut sind denn die kritischen Stimmen an diesen Gesetz. Es könnte ja die Befürchtung bestehen, dass, sagen wir, geldgierige Verwandte oder von der Pflege gestresste Angehörige oder auch schlampige oder gar korrupte Ärzte oder eine schwere Depression zum Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Tod zu einer verfrühten Sterbeentscheidung führen könnten. Wird das diskutiert und gab es solche Fälle?

Schweighöfer: Nein, es wird nicht mehr diskutiert – am Anfang ganz sicher, inzwischen merkt man, das Gesetz funktioniert. In den zehn Jahren kam es nie so weit, dass die Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung übergegangen ist, also kein Arzt wurde verurteilt. Die Ärzte handeln in der Regel – kann man wirklich sagen – sehr, sehr sorgfältig.

Billerbeck: Sie haben ja geschildert, dass die Baby-Boomer-Generation, die ein sehr selbstbestimmtes Leben geführt hat, immer die Kontrolle darüber hatte, auch am Ende die Kontrolle über den eigenen Tod haben will. Und wenn man nun ein Gesetz hat, das die Tötung auf Verlangen zumindest nicht mehr unter Strafe stellt unter bestimmten Bedingungen, könnte man dann nicht auch befürchten, dass diese gesellschaftliche Praxis dazu führt, dass man noch einen Schritt weitergeht? Also wenn es ausreicht, das Leben nicht mehr lebenswert zu finden, warum nicht den letzten Schritt tun angesichts von überlasteten Pflegern und leeren Gesundheitskassen, kann da nicht die Gefahr bestehen, dass Sterben dann quasi zur Pflicht wird?

Schweighöfer: Die Holländer sind dabei, einen Schritt weiterzugehen. Der nächste Schritt, der ganz weit weg ist, aber wo die Bürger sich mobilisieren und probieren, eine Basis zu finden bei den Mitbürgern und auch in der Politik, das ist die sogenannte Letzter-Wille-Pille. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick ganz, ganz schrecklich, aber das sind eben diese mündigen Bürger, die sagen – und da geht es in der Diskussion nicht um leere Kassen oder um zu wenig Pfleger, es geht hier wirklich ausschließlich um den mündigen Patienten – der mündige Mensch, der selbst entscheiden will.

Und jetzt ist es eben so weit, dass alte Menschen hier sagen, ich bin alt, ich werde immer älter, ich werde vielleicht 90, ich werde vielleicht 100, ich bin gesund, ich habe kein unerträgliches Leiden, also ich falle nicht unter den Sterbehilfeparagrafen, aber ich will meinem Leben trotzdem ein Ende setzen, weil ich es als vollendet betrachte. Meine Familie ist tot, meine Freunde sind bereits tot, meine Einsamkeit, die kann mir niemand füllen, das geht einfach nicht mehr in diesem Lebensstadium. Ich habe auch alles gehabt, mein Leben ist vollendet, lasst mich sterben. Und deshalb machen sich immer mehr Bürger jetzt stark dafür, dass man das Recht bekommt, auch wenn man nicht krank ist, im Alter seinem Leben auf würdige Weise selbst ein Ende setzen zu können, ohne im Altersheim aus dem Fenster zu springen, sich in Brand zu setzen oder an der Klingelschnur aufzuhängen, was eben alles passiert.

Billerbeck: Dieses selbstbestimmte über sein Leben auch am Ende Entscheiden, das kann ja auch beeinträchtigt sein, beispielsweise durch Krankheiten wie Depression und Alzheimer, von denen wir in einer älter werdenden Gesellschaft ja immer häufiger betroffen sind. Welche Rolle spielt das im Zusammenhang mit dem Sterbehilfeparagrafen?

Schweighöfer: Das ist eine ganz wichtige Entwicklung, und auch vielleicht eine, wo Kritiker sagen, eine gefährliche Entwicklung, weil in der Tat die Zahl der Alzheimer-Fälle unter den Sterbehilfefällen, die ist in den letzten paar Jahren angestiegen. Das waren fast nur Ausnahmefälle, ist nie vorgekommen, aber 2010 gleich 21-mal. Depressionen sind absolut noch die Ausnahme, das war 2011 zweimal der Fall, das ist wirklich noch die Ausnahme, aber Alzheimer – klar, weil die Menschen immer mehr Menschen erkranken an Alzheimer. Das ist ein Problem, und das fällt auch unter den Sterbehilfeparagrafen, weil es ist eine anerkannte Krankheit ohne Aussicht auf Genesung. Und das Problem hierbei ist eben nur, dass man das rechtzeitig sagen muss, weil man es später nicht mehr sagen kann, und weil man es auch schriftlich festlegen muss, und der Arzt dann hinterher eben, wenn der Patient überhaupt nicht mehr ansprechbar ist oder sich nicht mehr erinnern kann, auf diese schriftliche Sterbehilfeerklärung verlassen muss. Aber da haben sehr, sehr viele Ärzte wirklich Berührungsängste, und die sagen, das ist Tod auf Bestellung, da wagen wir uns nicht dran, das ist noch eine Ausnahme.

Aber es gab einen Fall, und der hat die niederländische Gesellschaft hier wirklich erschüttert, da ist eine Frau mit 56, die erkrankte an Alzheimer, die hat zu ihrem Mann gesagt, wenn ich ein Pflegefall werde, ich will sterben, auch mit ihrem Hausarzt hat sie drüber gesprochen. Sie hat wirklich inständig darum gebeten, ich will so nicht weiterleben, tötet mich dann, wenn es so weit ist. Der Ehemann hat es versprochen, der Arzt hat es auch versprochen, es gab eine schriftliche Erklärung – neun Jahre später war es dann so weit, und die Frau wurde eigentlich getötet und wusste nicht mehr, wie ihr geschah. Und das ist ein Fall, wo viele sagen, hier wurde eine rote Linie überschritten. Obwohl, gesetzlich war alles in Ordnung. Also die schriftliche Erklärung, sie hat es vorher mehrfach gesagt, aber auch viele Holländer sagen hier: Das ist eine rote Linie, da hätten wir vielleicht nicht drüber schreiten sollen.

Billerbeck: Kerstin Schweighöfer über die Debatte in den Niederlanden, zehn Jahre nachdem das Parlament ein Gesetz zur Kontrolle der Tötung auf Verlangen verabschiedet hat. Danke Ihnen!

Schweighöfer: Gern geschehen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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