Der "Thalia Vista Social Club"

Von Axel Schröder · 27.01.2008
Am Thalia Theater in Hamburg hat ein Stück mittlerweile Kultstatus erreicht: Im "Thalia Vista Social Club" parodiert ein ganzes Altenheim die Hits der sechziger und siebziger Jahre. Damals war man noch verrückt und mit der Musik entdecken die Rentner und Rentnerinnen ihre Verrücktheit wieder.
Drinnen, auf der Bühne, am großen schwarzen Flügel: Fred Schneider. Ende vierzig, in Jeans und Turnschuhen hält er den Kopf leicht geneigt, konzentriert sich auf jeden Ton. Fred Schneider ist Klavierstimmer am Thalia Theater. Die Hemdärmel hochgekrempelt, in einer Hand den Spezialschlüssel, die andere auf den Tasten. Saite für Saite prüft er. Zwei Stunden noch bis zur 150. Vorstellung des "Thalia Vista Social Clubs". Auf dem Klavierhocker sitzt dann der Pianist Dietmar Loeffler. Der Klang muss stimmen.

"Die langen zum Teil ganz schön zu. Doch, doch. Spaß, Rock 'n' Roll. Nee, nee. Der Flügel wird ja ständig hin und her bewegt, und ich bin eigentlich vor jeder Vorstellung hier und bringe das in Ordnung. Es ist schön, dass man das vorher machen muss. Und wenn man dann selber dabei sitzt und das mache ich heute Abend auch, - und das dann hört: das ist ja auch Kunst."

Hoch oben schwebt ein riesiger Kronleuchter über den fünfhundert, noch leeren, rot gepolsterten Sitzen. Der "Thalia Vista Social Club" spielt vor dem Eisernen Vorhang. Auf drei mal neun Meter Grundfläche. Die Schauspieler brauchen fünf morsche Sessel, eine Standuhr, ein Beistelltischchen, ein Goldfischglas und den Konzertflügel. Auftritt Bühnenmeister Ingolf Bose. Helle Jeans, Sweatshirt, ein Walkie-Talkie am Gürtel. Zum 150. Mal kontrolliert der 56-Jährige, ob die Sessel die Vorstellung überleben werden. Mit einem derartigen Erfolg des Stücks hat niemand gerechnet.

"Das ganze Stück ist ja durch einen Zufall entstanden, an und für sich. Wir hatten mal ein sehr großes Stück, was sehr aufwendig auf- und abzubauen war. Und damit das während der Proben auf der großen Bühne stehen bleiben konnte, hat der Herr Gedeon hier so ein kleines Stück vorne gemacht, das so als "Reinschmeiß-Stück" gedacht war: schnell aufgebaut, schnell hingestellt. Und das hat sich einfach als Kultstück entwickelt. Inzwischen seit über fünf Jahren. 150. Vorstellung sagt ja alles. Und immer rappelvoll."

Premiere feiert der "Thalia Vista Social Club" am 12. September 2000. Am Flügel damals noch der Autor selbst: Erik Gedeon. Ort der Handlung: die Bühne des mittlerweile geschlossenen Thalia Theaters. Im Jahr 2045. Alle Schauspieler spielen sich selbst: Maren Eggert wird zu Frau Eggert, leicht ergraut. Peter Jordan spielt ihren greisen Ehemann Herrn Jordan. Der alte Stefan Schad kaut auf seinem Gebiss und ist doch er selbst geblieben, und so weiter.

Sechs Akteure braucht das Stück, plus einen Pianisten. Gespielt wird ohne Umbaupausen vor dem tiefschwarzen Eisernen Vorhang. Dahinter, verborgen von einem zweiten Vorhang, wird noch gearbeitet, gebastelt, getuschelt. Zum 150. Jubiläum soll es eine Überraschung geben. Alle Mitarbeiter sind zum Schweigen verdonnert.

18 Uhr 30. Im dritten Stock des Theaters. Der Schauspieler Stephan Schad steuert auf seine Garderobe zu. Schlank, etwas blass, braunes kurzes Haar, eine markante Nase. Darauf eine Brille mit kleinen, runden Gläsern. Unter dem rechten Arm ein Stapel loser Blätter, in der Linken einen Becher Tee.

"Ah, hallo, schönen Abend! Ich hab mir noch einen Tee im Betriebsbüro geholt. Denn das künstlerische Betriebsbüro des Thalia Theaters versorgt Schauspieler, die so ein bisschen angeschlagen sind, mit Tee! Du kannst also hingehen und sagen: Uhuhu, Ähähäh, so. Und sofort bekommst du einen Tee.
So. Also, das ist meine Garderobe. Diese Garderobe betrete ich immer mit großer Ehrfurcht, weil: in dieser Garderobe hat einst Will Quadflieg gewohnt, auf diesem Sofa hat Will Quadflieg ein Mittagsschläfchen gelegentlich gehalten. Abends, vor der Vorstellung, saß er auf diesem Sofa! Das gleiche speckige Sofa! Da darf auch nichts dran gemacht werden, das hat musealen Wert."

Die Sitzflächen des braunen Möbels sind glatt gescheuert, die Armlehnen rissig. Hinter dem Garderoben-Spiegel klemmt ein Foto der jungen Christine Kaufmann. Stephan Schad knöpft sein weißes Hemd zu, fast fällt der Kragen ab nach den vielen Auftritten. Dann kommt die Hose. Und ein schäbiger, ausgeleierter Morgenrock. Aus dem zieht der Schauspieler verstohlen einen kleinen Plastikbeutel: seine Überraschung für die Kollegen an diesem Abend:

"Ich hab mir heute – und ich verrate es nur den Hörern: Das ist ne Tüte Konfetti. Die habe ich mir besorgt. Weil ja heute die Jubiläumsveranstaltung ist. Und die kommt heute zum Einsatz. Das wissen die Kollegen aber noch nicht. Und ich habe mich noch nicht entschieden, wann ich sie einsetzen werde. Mal kucken. Irgendwann auf jeden Fall!"

Schnell hinein in die dunkelroten Puschen. Danach zum Fahrstuhl. Stephan Schad muss einen Stock höher, in die Maske.

"Von den Schuhen habe ich so – das ist mein drittes Paar. Da habe ich schon zwei durchgelaufen. Schlurfender Gang, beziehungsweise: das sind ja so Billig-Schlappen. So Kunstleder. Die halten auch nicht lange. Ah, Moment, ich hab meine Socken noch vergessen. Die sehen ein bisserl so aus wie Thrombosestrümpfe. Von alten Männern. – So. Handy aus und jetzt gehen wir nach oben."

19 Uhr. Eine Stunde noch bis zur Aufführung. Stephan Schad biegt in die weiß getünchten verwinkelten Gänge des Theaters, in der Hand seinen Tee-Becher. – Draußen, auf dem nassen Pflaster warten die ersten Theatergäste. Regenschirme über Köpfen, Handtaschen über Frauen-Schultern.

Durch die weißen Flügeltüren strömen die Gäste ins Foyer. Rechts und links führen breite Treppen mit geschwungenen Handläufen zu den Logenrängen. Hanseatisch-blauer Teppich auf den Stufen. Ovale Wandleuchter werfen ihr warmes Licht auf die Holztäfelung. Unten rechts im Foyer öffnet der Barmann die kleine Sektbar, hinter den Glasfenstern der Abendkasse zieht eine junge blonde Frau die Vorhänge auf. In der Schlange davor ein Dutzend Gäste in Abendgarderobe.

"Wir haben das von den Enkelkindern gehört. Und nu sind wir ja natürlich gespannt. Das soll ganz toll sein, haben die uns erzählt."

"Fragen sie mal meine Frau. – Ich hab es schon dreimal gesehen, weil es so witzig ist."

"So was wir gehört haben, muss das ja ganz amüsant sein. Möchte ich mal sagen. Aber dann lassen wir uns mal überraschen."

"Mal kucken. Wahrscheinlich schöne Musik. Ich denke mal, das ist ja mit Musik? Also, vom Namen her erwarte ich, mmh – kubanische Musik."

"Es geht ums Altersheim, es geht um die Auseinandersetzung mit dem Alter. Mit viel Witz, mit viel Hintergründigkeit. Es ist überhaupt nicht platt. Ich glaube, sie sind begeistert, wenn sie rausgehen."

"Thalia Vista Social Club": ein Musikstück. Die Protagonisten leben ganz allein im riesenhaften Altersheim, das früher mal Theater war. Sie alle kleben am Bühnenleben, leicht dement, aber immer noch gierig auf das große, wilde Leben von damals.

Nur ein Mensch macht ihnen das Leben schwer: Schwester Angelika, die die Alten versorgt und malträtiert. Der einzige Ausweg aus dem tristen Heim-Alltag: die Musik. Die Schlager von damals, als alles noch besser war.

Stephan Schad singt sich ein. Auf den Fluren im dritten Stock, kurz vor dem Maskenraum. Der Schauspieler setzt sich auf seinen Frisierstuhl. Vor sich ein großer Spiegel, hinter sich Maskenbildnerin Luise Steiner. Die kleine Frau, 56 Jahre alt, mit grauem, halblangem Haar, hat keine Zeit zu verlieren. In der Hand immer mehrere Quasten, Make-up-Pinsel und Kleber für die grauen Perücken. Luise Steine umkreist die Köpfe der Schauspieler und während die Schminke bei dem einen noch trocknet, wird schon der nächste Schauspieler versorgt. Peter Jordan, Jahrgang 67, hager, durchtrainiert, tiefe Geheimratsecken ragen ins blonde Haar. Den Kopf leicht nach hinten gebeugt, ein Auge geschlossen.

"Jetzt wird mir gerade ein Schlupflid geschminkt. Aber am meisten macht, glaube ich, auch die Perücke aus. – Es wird auch jedes Mal ein bisschen anders."

Neben Peter Jordan sitzt die junge Schauspielerin Maren Eggert. Mit geradem Blick aus großen grünen Augen, nach vorn in den Spiegel. Geschwungene Lippen, dunkelblonde Haare. Versteckt unter einer engen Kopfhaube. Die graue Perücke hängt vor ihr auf dem Ständer. Hundertfünfzig Mal dieselbe Perücke, dieselbe Rolle: hundertfünfzig Mal die Ehefrau von Peter Jordan. Im Jahr 2045.

"Ich weiß gar nicht. So nach vierzig Malen dachte man: ja, jetzt haben wir es schon ganz schön oft gemacht. Aber das geht dann immer so in Wellenbewegungen. Dann geht es mal wieder eine Weile und dann kommt wieder so ein Punkt, wo man sagt: Jetzt noch mal? – Immer so phasenweise, würde ich sagen."

Langeweile? Bisher nicht. In Maren Eggerts Augen hat das vor allem einen Grund:

"Weil von den Zuschauern einfach ganz viel kommt. Weil die sich sehr drauf freuen. Vom Publikum kann man in diesem Stück sehr viel Energie nehmen. Und außerdem kennen wir uns schon sehr gut. Da versuchen wir uns so unter den Kollegen gegenseitig zu überraschen. Das hält natürlich auch die Spannung. Wenn man überlegt: Okay, was macht der heute Abend an dieser Stelle. Kleine Veränderungen, die wir machen, um uns ein bisschen bei Laune zu halten."

"Richtig rausgehangen hat’s mir nie. Aber da, wo das so anfing, dass ich gedacht habe: 'Geht das jetzt so weiter?' – Wo man sich das fragt? Das war so nach der 25., nach der 30. Vorstellung. Da hat man sich schon gedacht: 'Wie lang werden wir das noch spielen? Wir werden es bestimmt 50 Mal spielen!' So im Scherz …!"

Noch zehn Minuten, dann beginnt das Stück. Die Tür geht auf, die Maske füllt sich. Mit fahlen, faltigen Gesichtern kommen die anderen Kollegen herein: Rainer Piwek als grauer, stiller, etwas beleibter Opa, mit großer Sehnsucht nach der jugendlichen Hippie-Zeit. Angelika Thomas lehnt in der Tür. Knapp 60 Jahre alt, spielt sie die jüngste auf der Bühne. Im engen Kleid mit tiefem Ausschnitt. Blondgelockt und blitzende Augen. Eine sehr junge und sehr bösartige Schwester Angelika.

Ganz anders das Kostüm von Viktoria Trautmannsdorff: Die Mittvierzigerin trägt ihr Kleid bis oben zugeknöpft. Die dunkelgrauen Haare streng zurückgesteckt, am Hinterkopf ein kleiner Dutt.

"Meine Damen und Herren, es ist 19 Uhr 55. Die dritte Zeitansage. Noch fünf Minuten bis zum Beginn der 150. Vorstellung von 'Thalia Vista'. Die dritte Zeitansage."

Stephan Schad stellt seinen halbvollen Cappuccino beiseite, Maren Eggert drückt ihre Zigarette hastig in den Aschenbecher, atmet aus, nimmt mit den anderen den Fahrstuhl zur Bühne.

Ausverkauftes Haus. Besucher halten Plausch mit dem Nachbarn, schicken kurze, beiläufige Blicke durch Saal, grüßen nach rechts und links. Sehen und Gesehenwerden. Vorn stehen die fünf Sessel und der Flügel. Stehlampe, Standuhr, Kleinkram.

Hinter dem Eisernen Vorhang: die Schauspieler. Draußen, am Flügel sitzt schon Dietmar Loeffler. Anfang sechzig, studierter Pianist und Komponist, mit Auftritten in der ganzen Republik. Als Herr Loeffler trägt er einen runden zerbeulten Hut mit schmaler Krempe. Beiger Anzug und kleine Brille. Auftritt Schwester Angelika. Durch die Stahltür auf die Bühne.

"Wir kommen jetzt zu dem berühmten Moment, wo Schwester Angelika auftritt. Man kann das Publikum schon hören, die ersten Lacher kommen schon. Das sind bestimmt Leute, die schon mal hier waren, die wissen, was als nächstes passiert. Wir erwarten heute eine extreme Hysterie.
Oh, jetzt geht die Musik los, jetzt müssen wir nacheinander auftreten, jetzt wird es langsam ernst. – Erster Auftritt Frau Trautmannsdorf. Musikwechsel und – Wagner ist das: 'Einzug der Gäste'. Das ist extra so gewählt von Herrn Gedeon damals."

Am Konzertflügel: Herr Loeffler, in den Sesseln: die Alten. Herr Schad hält sein Goldfischglas auf dem Schoß.

Herr Piwek läuft ohne Ziel durch den Raum, gedankenlos, weit weg. Das Ehepaar Jordan-Eggert hat Ärger: Er will tanzen, sie will sitzen. Nur apathisch in die Ferne schauen.

Die kleinen Aussetzer der WG-Mitglieder, jeder Slapstick der Alten kommt an. Schwester Angelika verschwindet durch die Stahltür. Wie immer, wenn sie nicht da ist, erwacht die schlummernde Lebenskraft der Alten-WG.

"Willst du jetzt nicht mehr tanzen oder was ist jetzt?! Warst doch grad ganz wild drauf!"

Herr Jordan nickt Herrn Loeffler am Flügel zu. Ein Ruck geht durch den alten Körper.

"Well, you can tell by the way I use my walk,
I'm a woman's man: no time to talk.
Music loud and women warm, I've been kicked around
since I was born.
And now it's all right. It's OK.
And you may look the other way.
We can try to understand
the New York Times' effect on man.

Whether you're a brother or whether you're a mother,
you're stayin' alive, stayin' alive.
Feel the city breakin' and everybody shakin',
And we're stayin' alive, stayin' alive.
Ah, ha, ha, ha, stayin' alive, stayin' alive.
Ah, ha, ha, ha, stayin' alive."

Ein Heimbewohner nach dem anderen stimmt in den Chor ein, die Erinnerung an bessere Zeiten weckt lang verschüttete Energien. Nur Frau Eggert und der alte Herr Piwek starren weiter stumpf in den Saal. Der Rhythmus erreicht sie nicht.

"And we're stayin' alive, stayin' alive.
Ah, ha, ha, ha, stayin' alive, stayin' alive.
Ah, ha, ha, ha, stayin' alive."

Nach seinem Auftritt als verkalkter John Travolta sinkt Herr Jordan in den Lehnstuhl, greift die Hand seiner Frau, die lächelt sanft. Das ganze Stück wirkt wie eine Kreuzung aus Tragikkömödie, Lustspiel, Schlagerabend und Slapstick. Ein amüsanter Abend, untermalt von fröhlichem Sarkasmus, von Anfang bis Ende. Besetzt mit erstklassigen Schauspielern, die sonst im Hamlet, als König Lear oder an der Seite von Tatort-Kommissaren zu sehen sind.

Der "Thalia Vista Social Club" treibt vor allem die über 50-Jährigen ins Theater. Abba, Neil Young, Simon and Garfunkel, Bob Dylan. Das Publikum kennt die vielen Hippie-Songs.

Reihe zehn. Nah am rechten Gang. Ein Zuschauer springt auf. Frau Eggert singt, er wedelt mit einer neonblau blinkenden, batteriebetriebenen Wunderkerze über dem Kopf. Ein Stammgast. Dann singt Herr Piwek, ein großer kräftiger Opa. Abwesend, mit herabhängenden Armen und Hut, ein zu kleiner, beigegrauer Pullunder über dem Bauch. Ein Medley, gestrickt aus 50 Hippie-Balladen.

Gleich darauf versinkt Herr Piwek wieder in Trance. Still suchend irrt er durch das Heim, während Schwester Angelika Operetten über den Tod schmettert.

Alle anderen schlüpfen in längst vergangene Rollen. Rollen, die ihnen den Durchbruch brachten. Für die sie gefeiert wurden.

Auftritt Herr Jordan. Mit einer besonderen Zaubershow. Wie im Stummfilm, sägt der greise Mann einer Spielzeugpuppe den Kopf ab. Hastig, tänzelnd, mit Klavierbegleitung. Herr Jordan wirft einen Gummi-Unterschenkel über die Bühne, kein Zaubertrick gelingt.

Kurz vor Schluss, die zweite Zugabe wird gesungen: Aktivitäten hinter der Bühne. Immer mehr Menschen sammeln sich im Halbdunkel hinter dem Eisernen Vorhang.

Mittendrin der Kaufmännische Direktor und der Inspizient des Abends. Leicht geduckt, die Köpfe dicht beieinander – letzte Vorbereitungen.

"Den Moment darfst du nicht verpassen. Die dürfen nicht wissen, was passiert. – Dann schließen wir die Tür ab? – Ja, dann schließen wir die Tür ab. Dann lassen wir sie da 5 Sekunden zappeln, Ratlosigkeit entsteht – und dann gehen wir mit dem Eisernen hoch."

Noch immer versteckt: eine runde Riesentorte: zweieinhalb Meter Durchmesser, dreistöckig und aus Sperrholz. Oben auf der Torte steht etwas schief eine ausgesägte, glitzernde 150.

1000 Muffins auf den drei Torten-Etagen, 1000 gefüllte Sektgläser auf den Tischen. Hinter dem Vorhang treffen sich alle: die Kostümbildner, die Tischler, die Bühnenbildnerin, die Licht- und Tontechniker. Schauspielerkollegen kommen, die Thalia-Fotografin taucht auf und der Intendant.

Vor dem Eisernen Vorhang, auf der Bühne, singt die Alten-WG trotzig die letzten Strophen. Ihr Abschiedslied an diesem Abend. Zusammen mit dem Publikum. Hand in Hand aufgereiht, fast andächtig, stehen die Schauspieler auf der Bühne.

Immer wieder verbeugen sich die sieben Akteure. Hinter der Bühne wird im gleichen Moment die Stahltür im Eisernen Vorhang fest verriegelt. Die Schauspieler können nicht mehr weg.

"Lasst uns raus! Lasst uns hier endlich raus!"

Langsam setzt sich der Eiserne Vorhang in Bewegung. Die Stahlwand schiebt sich nach oben, die Torte ist schon zu sehen, drum herum rund 50 Schauspieler und Mitarbeiter des Theaters.

Das Publikum steht klatschend im Saal, die Schauspieler blicken auf Torte und Kollegen. Sechs große, kreisrunde Lichtkegel gleiten über die Bühne und eine Wolkenkulisse. Zwei Kanonen schießen glitzerndes Konfetti in die Höhe. Intendant Ulrich Khuon bahnt sich den Weg nach vorn, in der Hand ein Mikrofon. Ohne Krawatte, aber im Anzug, lädt er das Publikum auf die Bühne.

"Also, es wäre schön, wenn sie noch ein bisschen im Thalia bleiben. Mit uns feiern. Herzlich Willkommen und herzlichen Glückwunsch an die Kolleginnen und Kollegen."

Fünf Minuten später hat das Publikum die Bühne erobert, Sektgläser in den Händen, strahlende Gesichter.

"Beim hundertsten war ich zufällig hier. Und jetzt beim 150. auch. Und ich finde es immer wieder großartig, wie die Schauspieler das körperlich – neben dem guten Singen und Agieren – schaffen."

"Grandios! Vor allem diese Collage der alten Hits, Bob Dylan und so – die war wirklich ganz toll."

"Super! Also, wenn man so alt wird … In dieses Alterheim möchte ich."

"Sehr gut! Es war eine Mischung aus Witz und großem Humor und gleichzeitig war es Tiefgang. Es war viel Tiefgang dabei. Vielleicht manchmal auch traurig, dass diese schönen Zeiten vorbei gehen, die man im Leben gehabt hat. All die schönen Songs, die einen an die Zeiten erinnern, als es einem gut ging. – Also, diese Mischung aus Humor und Tiefgang – die war schon gekonnt."

Dicht an dicht drängen sich Besucher und Thalia-Personal auf der Bühne, alle in Gespräche vertieft, Smalltalk und Lob für die Darsteller. Zwei Mitarbeiter schieben den schweren Flügel langsam Richtung Bühnenrand. Einer der Gäste, Bühnenchef Gero Krause, hat das Stück von Anfang an begleitet. In der Hand einen Sekt, den Arm leicht angewinkelt, erklärt er das Geheimnis des "Thalia Vista Social Clubs":

"Gegen Schluss der Vorstellung gehe ich immer in die Proszeniums-Loge. Das sind die Logen vorne, wo Scheinwerfer und so weiter drinhängen. Und dann kuck ich mir immer das Publikum an. Und kuck ins Publikum rein und es ist ein unglaublich schöner Moment, wenn man sieht, wie ein 20-Jähriger neben einem 80-Jährigen sitzt – und beide haben so das gleiche etwas, na ja, etwas dumme Grinsen im Gesicht. Was man hat, wenn man glücklich ist. Ist toll. Also, ich habe das blöde Grinsen auch. Und das ist einfach … Es fühlt sich sehr gut an, dass so etwas hier geschaffen wird. Das ist schön!"