Der Teufel lässt die Köpfe fliegen

Von Stefan Keim |
Am Anfang war das Wort. Und das Wort war nicht bei Giorgio Agamben. Obwohl Sebastian Baumgarten inszeniert hat, einer der treusten Verwerter der Thesen dieses Philosophen. Nein, das Wort gehört diesmal der Bibel. "Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob", der ganze Stammbaum Jesu steht am Beginn der Romanadaption von Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita" in Düsseldorf. Sebastian Baumgarten geht neue Wege.
Seine "Tosca" an der Berliner Volksbühne ist noch ein Wirrwarr an Zitaten und Verweisen. Allerdings auch sehr unterhaltsam, wenn man nicht den Versuch unternimmt, den verschlungenen Gedankenpfaden zu folgen, sondern sich einfach dem aufgedrehten Ensemble bei seiner wilden Gratwanderung zwischen Puccini und Popkultur hingibt. Auch die Bühnenfassung von Lars von Triers Film "Europa" in Düsseldorf geriet Baumgarten überkomplex, ein Rausch aus Klängen und Bildern, anregend und verwirrend. Nun herrscht plötzlich Klarheit: Bulgakows vielschichtigen Roman erzählt Baumgarten von vorne bis hinten und setzt seine typischen Techniken diesmal im Dienst der Handlung ein.

Bulgakows Satire auf das Russland der zwanziger und dreißiger Jahre bietet mehrere Handlungsebenen. Da steht im Kern eine Faust-Variante und Parodie, in der diesmal die Frau, Margarita, die Hilfe des Teufels in Anspruch nimmt, um sich ihren Geliebten zu angeln. Der sitzt im Irrenhaus, verdrängt seinen Namen, lässt sich nur mit "Meister" anreden und ringt mit dem letzten Satz seines Buches über Jesus und Pontius Pilatus. Bulgakow erzählt einen Roman im Roman, eine Vorwegnahme der literarischen Postmoderne. Diese Passagen zeigt Baumgarten als Film, der in ein Bühnenprospekt projiziert wird. Darauf ist eine russische Hochhaussiedlung mit Wellblechhütten zu sehen. Baumgarten und die Dramaturgin Andrea Schwieter verlegen die phantastische Handlung in die Gegenwart. Das funktioniert leichter als man es sich beim Lesen des Buches vorstellt. Denn die russische Gesellschaft befindet sich heute wie damals im Umbruch. In den dreißiger Jahren wurden Helden der Revolution über Nacht zu Staatsfeinden, Ähnliches passiert heute erfolgreichen Geschäftsleuten, die interne Machtkämpfe verlieren.

Die Aufführung zeigt eine Gesellschaft, in der es keine Sicherheit, keine Zuflucht mehr gibt. So entstehen Freiräume für Teufel, Scharlatane, religiöse Fantasien. Rainer Galke sieht als Satan im roten Anzug wie ein Ganove aus einem Tarantino-Film aus. Seine Shows, mit denen er laut Buch Moskau fasziniert, sind pure Trashspektakel. Als der versoffene Conferencier (Winfried Küppers sieht mit blonder Wuschelperücke überwältigend bekloppt aus) die Tricks verraten will, wird er von des Teufels Katze (Cathleen Baumann) im Video enthauptet.

Die Lust an extremen Szenen hat Sebastian Baumgarten nicht verloren. Manche Feinheiten von Bulgakows Roman gehen verloren, richtige Schmerzpunkte, Momente, in denen es gefährlich wird, fehlen der Aufführung. Die Zensur, mit der Bulgakow stets kämpfte, kommt nur in einer kurzen Szene vor, in der eine Literatenrunde achtlos seine Skripte zerfetzt. Aber der Abend hat einen coolen Soundtrack vom Russenpop mit fetten Bässen bis zum naiven deutschen Schuhwerbungsschlager. Und Schauspieler, die sich mit voller Energie auf die rutschige Bühne werfen. Der Boden ist komplett mit einer Schicht aus Schnee und Eis bedeckt, drei Gullys bieten Abgänge in die Unterwelt. Markus Scheumann spielt den Meister als versponnenen Typen mit schlecht angeklebtem Schnauzbart, in sich und seine Fantasien verrannt, herrlich neben der Spur. Nadine Geyersbach sucht ihn als Margarita mit der Liebesgewissheit eines kleistschen Käthchens, die selbst nicht genau weiß, warum sie so fühlt. Sie kann einfach nicht anders, begibt sich in die Fänge des Teufels, fliegt unsichtbar durch die Straßen, lässt sich eine Rothaarmähne verpassen, erschießt einen Baron. Und bleibt – besudelt mit Blut und schwarzer Flüssigkeit – im Inneren doch seltsam rein.

Manche Regisseure werden in der Wahl ihrer Mittel mit der Zeit handwerklich sicherer. Der Furor weicht einer größeren Konzentration auf das Inhaltliche. Bei Sebastian Baumgarten überrascht dieser Weg, er schien sich in seiner Überforderungsästhetik wohl zu fühlen, sie ist zum Markenzeichen geworden. Vielleicht wird seine nächste Regie wieder ganz anders, das hängt sicher vom Stoff ab. "Der Meister und Margarita" ist jedenfalls eine reife Inszenierung, in der Baumgarten weiterhin anarchische Spiellust entfesselt und fröhlich mit Effekten spielt. Aber die Handlung verschwindet nicht mehr hinter der Kommentarebene. Der Abend hat Rhythmus und Stil. Die zweieinhalb pausenlosen Stunden machen richtig Spaß.

Der Meister und Margarita
Nach dem Roman von Michail Bulgakow

Inszenierung: Sebastian Baumgarten
Düsseldorfer Schauspielhaus