Der Taube und der Blinde

Von Said |
Meine Kindheit verbrachte ich in einem islamischen Land, in einer liberalen Familie. Mein Vater übte keine Religion aus und zwang mich auch zu keiner; aber meine Großmutter war tief religiös, während meine Cousine, die mit uns lebte, mit sehr kurzen Röcken zur Universität ging.
Dann verschlug mich das Leben hierher, im Alter von 17. wie ein Kind, das schlafend fortgetragen wurde. Nun lebt das Kind seit 40 Jahren in Europa, auf dem kleinsten Kontinent dieser Erde. Hier hat es Zuflucht gefunden vor zwei Diktaturen, vor der Diktatur des Schahs und vor der von Chomeini. ohne seinen Traum je zu vergessen: ein Nebeneinander der Menschen, die sich gegenseitig respektieren. Daraus könnte unter günstigen historischen Umständen dann ein Miteinander erwachsen.

Und dieses Kind übersieht nicht, wie reich es von diesem Kontinent beschenkt worden ist: das Kind kann hier frei denken, seine Gedanken frei äußern und arbeiten. Und, dieses Europa erlaubt ihm sogar, nach eigener Fasson unglücklich zu sein. Aber schon der halbwüchsige in Teheran wusste, Europa bedeutet Freiheit. Und heute achtet der gealterte Flüchtling darauf, Freiheit nicht mit Toleranz zu verwechseln. Denn in Europa spricht man gerne und oft davon.

"Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen." Der dies schrieb, Johann Wolfgang von Goethe, schlug eine grandiose kulturelle Brücke zwischen Okzident und Orient - ohne Arroganz, Gönnerhaftigkeit und Aufrechnerei. Toleranz ist also kein Zustand, sondern eine Ausgangsposition; vielmehr eine Bewegung. Wir müssen uns aufeinander zu bewegen; der Stillstand gebiert zuweilen nur Indifferenz oder gar schlimmere Fantasien.

Toleranz ist keine staatliche Angelegenheit. Ein Staat kann nur demokratisch sein. Toleranz ist das Anliegen der Gesellschaft; und diese besteht bekanntlich auch aus Individuen - der Rest ist Haltung oder Meinung.
So verwechseln wir zuweilen Toleranz mit Aufklärung. Wie oft höre ich diese Phrase – meist mit einem unerträglich gönnerhaften Pathos: "Im Orient hat es keine Aufklärung gegeben, darin liegt seine Misere."

Deutschland hat sehr früh die Aufklärung für sich entdeckt – nicht zuletzt durch die Schriften von Immanuel kant – und ermordete dennoch sechs Millionen Juden. Frankreich hat 1789 die Aufklärung auf das Banner der Revolution geschrieben und dennoch im Krieg gegen Algerien eine brutale Fratze gezeigt, die seine Demokraten tief verletzte; kannten sie doch nicht diese Seite ihres Vaterlands. Wer also behauptet, Aufklärung münde zwangsläufig in Toleranz, der unterstreicht lediglich seine Blauäugigkeit.

Da Toleranz keine Fertigware ist, die man auf dem Regal eines Supermarktes vorfindet, so müssen wir nach ihrer Herkunft fragen. Sie wird letztlich in einem aufrichtigen und ständigen Dialog mit dem Andersdenkenden geboren. Ich meine einen Dialog, der grundsätzliche Differenzen nicht ausschließt und keinem Konflikt aus dem Wege geht – dabei aber stets den Streitpartner respektiert, ohne dass eigene Positionen aufgegeben werden.

Voraussetzung für solch einen Dialog aber ist, dass man schwäche zeigt. Die eigene. Der gegenwärtige Dialog zwischen dem Westen und dem Islam erinnert mich an ein Gespräch zwischen einem Tauben und einem Blinden. Der eine ist taub, weil saturiert; der andere blind, weil er nur auf sich schaut. Der Taube produziert, zuweilen auch Waffen, der Blinde setzt sie ein, zuweilen auch gegen den Tauben.

Doch wir ringen um eine Haltung - als Voraussetzung für jenen Dialog -, die niemand besser formuliert hat als der französische Philosoph Michel de Montaigne: "Man muss sich den anderen hingeben, um sich selbst treu zu bleiben."

Said, geboren 1947 in Teheran, lebt seit 1965 in München. Sein literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis (1991), der Premio Letterario Internazionale "Jean Monnet" (1994) und der Preis der Stadt Heidelberg "Literatur im Exil" (1996). Für sein politisches Engagement und seinen persönlichen Einsatz für verfolgte und inhaftierte Schriftsteller wurde Said 1997 die Hermann-Kesten-Medaille verliehen; im selben Jahr war er Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles. Im März erhält er in Weimar die Goethe-Medaille.