Der Superorganismus

Bert Hölldobler im Gespräch mit Dieter Kassel · 02.02.2010
Von den Blattschneiderameisen kann man lernen, dass streng hierarchische Systeme nicht sehr effizient sind. Das sagt der Biologe Bert Hölldobler. Die Blattschneiderameisen bildeten "verteilte Netzwerke", charakteristisch sei "das Interagieren von gleichbedeutenden Spezialistengruppen".
Dieter Kassel: Jeder, der bei einem Waldspaziergang schon mal einen Ameisenhaufen entdeckt hat, ist fasziniert davon, was er sieht. Was er sieht, sieht aus wie Chaos, und doch haben wir alle an der Schule gelernt, es ist alles andere als das, auch schon bei unseren heimischen Tieren. Aber wozu die Waldameisen in Deutschland und Europa imstande sind, das ist noch ziemlich bescheiden im Vergleich zu den Blattschneiderameisen, die deshalb auch Bert Hölldobler besonders faszinierend findet. Hölldobler ist einer der renommiertesten Ameisenexperten, Gründungsprofessor für Life Sciences an der Arizona State University, und er hat gerade zusammen mit seinem Kollegen Edward O. Wilson das Buch "Der Superorganismus" veröffentlicht. In diesen Tagen ist er in Deutschland unterwegs und sitzt deshalb jetzt für uns in unserem Studio bei den Kollegen vom BR in Würzburg. Schönen guten Tag, Herr Hölldobler!

Bert Hölldobler: Guten Tag!

Kassel: Bleiben wir doch mal bei diesen Blattschneiderameisen, denen Sie ein ganzes Kapitel gewidmet haben in Ihrem Buch. Was können die denn alles, was selbst andere Ameisenarten nicht können?

Hölldobler: Also die Blattschneiderameisen, die haben vor ungefähr zwölf Millionen Jahren die Agrikultur erfunden, die Landwirtschaft. Die haben nämlich das Kultivieren eines Pilzes evolutionär erfunden. Um den Pilz überhaupt zu züchten, gehen sie auf Ernte aus in riesigen Scharen, Hunderte, Tausende von Ameisen, herauf auf die Baumdächer in einem tropischen, neotropischen Urwald, und sie schneiden dort Blattstücke von den Blättern, die sie dann in langen, langen Kolonnen zurück in das Nest tragen. Und dort bereiten sie einen Humus von diesen Blättern, auf dem sie dann diesen Pilz züchten. Das ist ein ganz bestimmter Pilz, der kann ohne Ameisen gar nicht mehr leben, und die Ameisen können aber auch ohne den Pilz nicht mehr leben. Das war einer der großen Durchbrüche in der Evolution der Ameisen, denn plötzlich gab es keine Begrenzung von Futterressourcen.

Kassel: Und ich glaube, an dieser Sache kann man vielleicht aber auch einen der vielen entscheidenden Unterschiede zwischen einem Ameisenvolk und menschlichen Völkern zeigen. Es hat sich entwickelt, aber wie ist es denn nun bei der Weitergabe von Wissen? Wenn ein menschlicher Landwirt einen jungen Landwirt hat, egal, ob er mit dem nun verwandt ist oder nicht, dann bringt er dem bei, wie er die Pflanzen zu züchten hat und mit denen umzugehen. Wie ist das bei den Ameisen, kommen die in diesem Volk zur Welt und wissen, was sie mit dem Pilz zu tun haben?

Hölldobler: Also darum nenne ich das gerne Zivilisation durch Instinkt. Diese Verhaltensweisen sind instinktiv angelegt. Vielleicht sollten wir klarmachen für die Hörer, dass so ein Ameisenstaat, oder wie wir es nennen: so ein Superorganismus wie die Blattschneiderameisen, durch eine ganz charakteristische Arbeitsteilung charakterisiert werden. Es ist nur ein reproduktives Tier, die sogenannte Königin und die Millionen von sterilen Weibchen, die Arbeiterinnen, die selbst gar keine Eier mehr legen und die aber hoch spezialisiert sind, diese Arbeiten wie das Pilzzüchten, das Ernten, die Verteidigung des Nestes hervorragend bewerkstelligen.

Kassel: Herr Hölldobler, gibt es denn dann nur diese beiden, also die Königin, die ja alle Gene hatte, bei der gewisse nicht zum Ausdruck kommen, und die Arbeiterinnen, oder gibt es dann unter den Arbeiterinnen auch noch Unterschiede? Denn gerade bei den Völkern, die diese vielen Fähigkeiten besitzen wie die Blattschneiderameisen, haben ja die Arbeiterinnen völlig unterschiedliche Aufgaben.

Hölldobler: Richtig. Und gerade die Blattschneiderameisen sind ein hervorragendes Beispiel. Also wir sprechen ja bei den Ameisen und auch bei den Bienen von zwei Kasten im Wesentlichen: die Königinnenkaste und die Arbeiterinnenkaste. Aber bei den Blattschneiderameisen, da sind die Arbeiterinnen noch mal unterteilt in eine Reihe von Subkasten, wie zum Beispiel die gigantischen Soldatinnen, die haben große Köpfe, dann haben sie die Winzig-Kleinen im anderen Extrem, die kleinen Minis. Und diese Minis, deren Hauptaufgabe ist es, sich um den Pilz zu kümmern, den Pilz zu pflegen, und sich um die Eier, um die unendlich vielen Eier, die ...

Pro Tag legt die Königin, stellen Sie sich das vor, etwa 29.000 Eier, pro Tag. Und die müssen ja verpflegt, die müssen versorgt werden, die müssen verteilt werden in diesem riesigen Nest. Das machen die Minis.

Und dann gibt es Größen dazwischen, zwischen den Extremen, das sind die Blattschneider, dann sind es die Transporteure, die Blattverkleinerer in dem Nest. Und wenn Sie sich das anschauen, dann sehen Sie, dass der ganze Prozess vom Ernten, Schneiden, zum Transport, zum Aufarbeiten bis hin zur Pilzpflege abläuft wie an einem Fließband. Und für diese verschiedenen Funktionen sind ganz bestimmte Arbeiterinnensubkasten dafür besonders befähigt.

Kassel: Was passiert denn aber nun eigentlich, wenn da der Bedarf, der da ist, nicht gedeckt wird? Also ein einfaches Beispiel: Sie haben diese Minis erwähnt; nehmen wir an, plötzlich gibt es in so einem Volk zu wenig Minis und dafür zuviel von den anderen. Wie wird das reguliert?

Hölldobler: Na ja, Sie können das experimentell machen. Sie können zum Beispiel die Hälfte der Soldatinnen wegnehmen in eine Laborkolonie. Und jetzt beobachten Sie, was passiert: Die Ameisen, die Arbeiterinnen wachsen nicht mehr. Die Kleine wächst nicht, um eine Große zu werden. Die wachsen während des Larvenstadiums. Und jetzt werden diese Larven besonders gut gefüttert, sodass sie schneller wachsen und schneller bestimmte Larvenstadien erreichen. Und das hat jetzt zur Folge, und ich will nicht in die Details gehen, wir wissen, die Physiologie heute ganz gut, dass bestimmte Hormone ausgeschüttet werden, sodass jetzt diese Larven alle in die Richtung Soldatinnen sich entwickeln. Und der nächste Schub von Arbeiterinnen, die aus der Puppe schlüpfen, das sind Soldatinnen. Und das läuft solange, bis etwa dieses Zahlenverhältnis wieder ausgeglichen ist.

Ja, wie wissen die denn, dass Sie jetzt die Hälfte der Soldatinnen weggenommen haben? Ich wünschte, ich hätte eine Antwort. Ich kann nur spekulieren. Zum Beispiel könnte es sein, dass die Brutpflegerinnen bestimmte Raten der Begegnung empfinden, dass sie zum Beispiel merken: Wir stoßen nicht mehr oft genug auf Soldatinnen, das heißt, wir haben nicht genug Soldatinnen.

Und wie merken die das, dass das eine Soldatin ist? Das wissen wir heute: Die Soldatinnen tragen Uniformen, aber das sind chemische Uniformen. Die haben auf ihrer Oberfläche ein ganz bestimmtes Kohlenwasserstoffprofil. Viel geht im Ameisenstaat über chemische Kommunikation, und so würden auch diese Regulations-, diese Feedbackmechanismen, diese Rückkopplungssysteme funktionieren. Aber wir wissen es noch nicht.

Kassel: Ich glaube, mir fallen noch ein paar Fragen ein, die Sie nicht wissen, aber sie fallen mir natürlich ein, deshalb stelle ich sie jetzt Ihnen: Warum ist das, was Sie Superorganismus nennen, bei Ameisen möglich und üblich und bei einigen Ameisenarten zu einer solchen Perfektion entwickelt worden – ich weiß, es gibt Ähnliches bei Termiten und bei ein paar anderen Insekten – aber warum gibt es das zum Beispiel nicht, eben bewusst ein etwas verrücktes Beispiel jetzt, warum gibt es das nicht bei Löwen oder bei Vögeln oder zum Beispiel beim Menschen sogar?

Hölldobler: Leider habe ich da wirklich keine gute Antwort! Ich spekuliere mal: Die Menschen produzieren ja so etwas Ähnliches durch Kultur. Eine Lebensgemeinschaft wie zum Beispiel ein Dorf oder eine Stadt, also ich hüte mich zu sagen, das ist ein Superorganismus. Aber sie zeigen ein starkes arbeitsteiliges System. Das ist eine Voraussetzung für einen Superorganismus, so wie unser Organismus, der normale Organismus, ja ein perfektes Arbeitsteilungssystem ist, das nur funktioniert, weil eine Menge Kommunikation in unseren Organismus vor sich geht. So ist es in einem Superorganismus.

Aber es ist noch etwas anderes da: Die Aufteilung in reproduktive Einheiten und sterile Einheiten. Und das haben wir Gott sei Dank in menschlichen Gesellschaften nicht und das wollen wir sicher auch nicht anstreben.

Kassel: Das klingt nicht sehr reizvoll. Aber gibt es denn trotzdem etwas, Herr Hölldobler, was man als Mensch lernen kann? Ich weiß, dass immer wieder Forscher, die sich mit dem Bereich Arbeitsorganisation und Arbeitsabläufe beschäftigen, natürlich geguckt haben, weil das erst mal ja ganz faszinierend wirkt, Abertausende bis Millionen Tiere, die in der Regel völlig störungsfrei solche Arbeiten verrichten. Aber können wir Menschen davon wirklich etwas lernen? Ich meine, was die Evolution angeht, haben sich unsere Wege doch schon vor Millionen von Jahren radikal voneinander getrennt.

Hölldobler: Ja, in der Tat. Wenn wir uns die Natur generell anschauen, dann haben wir schon eine ganze Menge aus der Natur gelernt und dann umgewandelt in unsere eigene Technologie, da könnte man ja unendlich viele Beispiele bringen. Bei den Ameisen, da wurde zum Beispiel dieses reibungslose Transportverhalten, das auf ihren Straßen abläuft, das wurde oft angesehen. Und heute gibt es Leute, die sich mit Verkehrsfluss beschäftigen, die haben sich sehr intensiv mit diesen Vorgängen auf Ameisenstraßen beschäftigt. Auf der anderen Seite wissen wir: Die Ameisen exerzieren uns sehr schön vor, wie soziale Systeme funktionieren und wie effizient sie sind oder nicht sonderlich effizient sie sind, wenn sie hierarchisch organisiert sind.

Es gibt viele primitiv-eusoziale Systeme, also echtsoziale Systeme bei den Ameisen, die sind hierarchisch, die haben Hierarchien mit kleinen Revolutionen innerhalb des Ameisenstaates. Die würde ich noch gar nicht zum echten Superorganismus zählen. Diese Kolonien werden nicht sehr groß. Sie sind keine sehr effizienten sozialen Systeme.

Und jetzt, wenn Sie mal einen großen Schritt machen wieder zu diesen Blattschneiderameisen, dort haben Sie keine Hierarchien mehr, dort haben Sie, was man verteilte Netzwerke bezeichnen ... Und diese Systeme sind ökologisch ungeheuerlich effizient. Da sagt man sich, na ja, es scheint uns schon ein kleiner Hinweis zu sein, dass hierarchisch organisierte, strikt hierarchisch organisierte wirtschaftliche Systeme offensichtlich nicht ganz so effizient sind wie diese verteilten Netzwerke, das Interagieren von gleichbedeutenden Spezialistengruppen. Und ich bin auch schon eingeladen worden von Ökonomen ...

Kassel: Das glaube ich sofort!

Hölldobler: ... darüber zu sprechen, und das hat uns die Natur wirklich vorgemacht.

Kassel: Das ist ein schönes Schlusswort. Bert Hölldober war das. Er ist zusammen mit seinem Kollegen Edward O. Wilson der Autor des Buches "Der Superorganismus", ein wirklich sehr dickes, ziemlich grundsätzliches Werk zu diesem Superorganismus Ameise. In Deutschland ist das Ganze beim Springer Wissenschaftsverlag erschienen und dort erhältlich. Danke für das Gespräch!

Hölldobler: Ich danke Ihnen!