Der subjektive Blickwinkel
Im Mittelpunkt von Elliot Perlmans Roman "Sieben Seiten der Wahrheit" steht Simon, der seiner Liebe aus Collegezeiten nachtrauert und auf die abwegige Idee kommt, den Sohn seiner Verflossenen zu entführen. Perlman erzählt die Entführung und die Folgen aus den Perspektiven der Beteiligten und entwirft damit ein psychologisches Spiegelkabinett.
Bereits der Titel "Sieben Seiten der Wahrheit" deutet auf die Erzählperspektive und das Ziel des Autors: zu zeigen, dass eine Begebenheit je nach Blickwinkel unterschiedlich wahrgenommen wird, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, sondern dass Wahrheit subjektiv ist. Das hat der bei uns noch unbekannte australische Autor Elliot Perlman, der in seiner Heimat bereits ein Star ist, geschafft und wurde dafür zu Recht von der Kritik gerühmt.
Im Mittelpunkt des Romans steht Simon, der seinen Job als Lehrer verloren hat, weil im Bildungswesen gespart wird, der zu viel trinkt und von einer besseren Welt träumt. Außerdem kann er Anna, seine große Liebe aus Collegezeiten, nicht vergessen. Sie hatte ihn verlassen, ist – allerdings unglücklich - mit dem Börsenmakler Joe verheiratet und hat ein Kind, Sam. Simons Liebe zu Anna wird mehr und mehr zu einer Obsession, nachdem er sie eines Tages zufällig dabei beobachtet hat, wie sie ein Armband, das er ihr einmal geschenkt hat, zur Reparatur bringt. Daraus folgert er, dass er ihr immer noch etwas bedeutet und fängt an, sie zu beobachten, sich heimlich auf ihrem Grundstück aufzuhalten. Schließlich hat er die wahnwitzige Idee, Sam zu entführen. Die Entführung ist zwar nach kurzer Zeit vorbei, bringt aber das Leben aller, die mit Simon zu tun haben, ins Wanken. Auch für Simon hat das Ereignis schlimme Folgen. Er kommt ins Gefängnis und als vermeintlicher Kinderschänder vor Gericht.
Sieben Personen erzählen dieselbe Geschichte, Simon selber, dessen Psychiater, außerdem die Prostituierte Angelique, die Simon aufopferungsvoll liebt. Dann Joe, der Vater des entführten Kindes, der wiederum regelmäßig Angeliques Dienste in Anspruch nimmt. Dazu Anna und ein Kollege von Joe. Und zum Schluss fügt die Tochter des Psychiaters noch fehlende Puzzleteile hinzu. Ein faszinierendes Beziehungsgeflecht entsteht, wobei der Autor in jeder Episode die Handlung vorantreibt und neue überraschende Aspekte hinzufügt: Angelique erfährt, dass sie unheilbar krank ist, Joe verliert nach einem geplatzten Mega-Deal seinen Job, und sein Kollege wird in einem Fortbildungscamp bei einer Fallübung zum Krüppel. Sieben Psychogramme und damit sieben Seiten der Wahrheit entstehen.
Sieben Versionen einer Geschichte; das wird deshalb nie langweilig, weil es eben sieben verschiedene Geschichten sind. Elliot Perlman konstruiert die einzelnen Kapitel so raffiniert, dass der Leser unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Die Spannung entsteht aus dem Wechsel monologischer und dialogischer Erzählform. Der Autor macht sich als Autor unsichtbar, es gibt keinen allwissenden Erzähler, sondern nur die unterschiedliche Weltsicht der sieben Figuren. Ein psychologisches Spiegelkabinett, man ertappt sich als Leser, wie unterschiedlich und subjektiv man die Charaktere beurteilt, je nachdem, wer gerade erzählt, und man beginnt sich zu fragen, wie es denn mit der sogenannten Wahrheit im eigenen Leben aussieht.
Der Roman spielt in Melbourne, Australien, könnte aber genauso gut in den USA oder in anderen Städten der Welt spielen. Er ist ein moderner Gesellschaftsroman am Puls unserer Zeit. Die Schauplätze sind Bordelle, Casinos oder das Gefängnis, in dem Simon sitzt. Wir erfahren Details aus dem jeweiligen Alltag der Protagonisten: als Börsenspekulant, Zocker oder Prostituierte.
Ganz und gar nicht missionarisch, sondern bisweilen durchaus satirisch, übt der Autor Kritik an der New-Economy-Gesellschaft, die die Menschen nur nach ihrem beruflichen Erfolg beurteilt. Perlman stellt die großen Fragen der menschlichen Existenz neu und vor dem Hintergrund unserer globalisierten Welt. Das ist große Literatur.
Rezensiert von Dorothea Westphal
Elliot Perlman: Sieben Seiten der Wahrheit
Aus dem Englischen von Matthias Jendis
DVA München 2008
859 Seiten, 22,90 Euro
Im Mittelpunkt des Romans steht Simon, der seinen Job als Lehrer verloren hat, weil im Bildungswesen gespart wird, der zu viel trinkt und von einer besseren Welt träumt. Außerdem kann er Anna, seine große Liebe aus Collegezeiten, nicht vergessen. Sie hatte ihn verlassen, ist – allerdings unglücklich - mit dem Börsenmakler Joe verheiratet und hat ein Kind, Sam. Simons Liebe zu Anna wird mehr und mehr zu einer Obsession, nachdem er sie eines Tages zufällig dabei beobachtet hat, wie sie ein Armband, das er ihr einmal geschenkt hat, zur Reparatur bringt. Daraus folgert er, dass er ihr immer noch etwas bedeutet und fängt an, sie zu beobachten, sich heimlich auf ihrem Grundstück aufzuhalten. Schließlich hat er die wahnwitzige Idee, Sam zu entführen. Die Entführung ist zwar nach kurzer Zeit vorbei, bringt aber das Leben aller, die mit Simon zu tun haben, ins Wanken. Auch für Simon hat das Ereignis schlimme Folgen. Er kommt ins Gefängnis und als vermeintlicher Kinderschänder vor Gericht.
Sieben Personen erzählen dieselbe Geschichte, Simon selber, dessen Psychiater, außerdem die Prostituierte Angelique, die Simon aufopferungsvoll liebt. Dann Joe, der Vater des entführten Kindes, der wiederum regelmäßig Angeliques Dienste in Anspruch nimmt. Dazu Anna und ein Kollege von Joe. Und zum Schluss fügt die Tochter des Psychiaters noch fehlende Puzzleteile hinzu. Ein faszinierendes Beziehungsgeflecht entsteht, wobei der Autor in jeder Episode die Handlung vorantreibt und neue überraschende Aspekte hinzufügt: Angelique erfährt, dass sie unheilbar krank ist, Joe verliert nach einem geplatzten Mega-Deal seinen Job, und sein Kollege wird in einem Fortbildungscamp bei einer Fallübung zum Krüppel. Sieben Psychogramme und damit sieben Seiten der Wahrheit entstehen.
Sieben Versionen einer Geschichte; das wird deshalb nie langweilig, weil es eben sieben verschiedene Geschichten sind. Elliot Perlman konstruiert die einzelnen Kapitel so raffiniert, dass der Leser unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Die Spannung entsteht aus dem Wechsel monologischer und dialogischer Erzählform. Der Autor macht sich als Autor unsichtbar, es gibt keinen allwissenden Erzähler, sondern nur die unterschiedliche Weltsicht der sieben Figuren. Ein psychologisches Spiegelkabinett, man ertappt sich als Leser, wie unterschiedlich und subjektiv man die Charaktere beurteilt, je nachdem, wer gerade erzählt, und man beginnt sich zu fragen, wie es denn mit der sogenannten Wahrheit im eigenen Leben aussieht.
Der Roman spielt in Melbourne, Australien, könnte aber genauso gut in den USA oder in anderen Städten der Welt spielen. Er ist ein moderner Gesellschaftsroman am Puls unserer Zeit. Die Schauplätze sind Bordelle, Casinos oder das Gefängnis, in dem Simon sitzt. Wir erfahren Details aus dem jeweiligen Alltag der Protagonisten: als Börsenspekulant, Zocker oder Prostituierte.
Ganz und gar nicht missionarisch, sondern bisweilen durchaus satirisch, übt der Autor Kritik an der New-Economy-Gesellschaft, die die Menschen nur nach ihrem beruflichen Erfolg beurteilt. Perlman stellt die großen Fragen der menschlichen Existenz neu und vor dem Hintergrund unserer globalisierten Welt. Das ist große Literatur.
Rezensiert von Dorothea Westphal
Elliot Perlman: Sieben Seiten der Wahrheit
Aus dem Englischen von Matthias Jendis
DVA München 2008
859 Seiten, 22,90 Euro