Der Star ist der Star

Von Michael Frantzen |
Es ist immer das gleiche Spektakel im Sommer: Jeden Abend steuern bis zu 40.000 Stare kurz vor der Dämmerung die Berliner Museumsinsel an. Formieren sich zu einer riesigen wabernden schwarzen Wolke – bis sie blitzartig auseinander fallen und sich an ihrem Schlafplatz im benachbarten Kastanienhain niederlassen. Längst gehören die Stare zur Museumsinsel wie die Tauben zum Trafalgar Square, finden sich viele Berliner und Touristen allabendlich zum Star-Watching ein. Und dann sind da noch die Profis: Ornithologen und Klangkünstler, die an dem Federvieh einen Narren gefressen hat.
Küntzel: " Warum machen die Stare das? (…) Dass sie sich in solchen Mengen wie bis zu 40.000 zusammenfinden und gemeinsam Schlafbäume aufsuchen? "

Witt: " Es gibt keine Vorwarnung. Man muss die Augen offen halten und gucken. (…)
Son bisschen geheimnisvoll is es schon. "

Klaus Witt ist dem Geheimnis auf der Spur. Der pensionierte Physiker, der mit seinem weißen Backenbart und dem kaki-farbenen Outfit ungefähr so wirkt, wie man sich immer schon einen Ornithologen vorgestellt hat – Klaus Witt beobachtet schon seit Anfang der Neunziger die Stare auf der Museumsinsel. Immer das gleiche Prozedere: Ankunft auf der Friedrichsbrücke anderthalb Stunden vor Sonnenuntergang, Feldstecher und Notizbuch griffbereit. Und dann heißt es warten. Bis die Stare kurz vor Dämmerung aus allen Himmelsrichtungen einfallen, sich zu einer riesigen wabernden schwarzen Wolke formieren – und dann blitzartig auseinander fallen, um sich in ihrem Schlafplatz im benachbarten Kastanienhain niederzulassen.

Witt: " Zwischen 19 Uhr und 19 Uhr zehn, zwölf so ungefähr (blättert durch Heft)...da sind dann auch mal so größere Flüge: So 300, 350, hier (blättert) 150. Hier 600...Das waren die, die nach hinten durchgeflogen waren ... "

Wenn man so will, sind die Stare Klaus Witts Passion. Überhaupt Vögel: Seitdem er pensioniert ist, verbringt er noch mehr Zeit in der „Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Berlin“, fährt er mit den anderen Vogelfreunden in den Urlaub nach Polen an die Warthe oder nach Spanien; macht er sich mindestens einmal die Woche vom gutbürgerlichen Lichterfelde tief im Westen auf den Weg nach Mitte – zum Star-watching. Bei Wind und Wetter. Die Eckdaten seines Stars kennt er aus dem Eff-Eff: Maximal fünf Jahre Lebenserwartung; Männchen und Weibchen sind nur zur Paarungszeit monogam – und selbst da gehen sie schon mal fremd; überhaupt: Ein sehr kontaktfreudiger Vogel, der die Nähe seiner Artgenossen sucht.

Witt: " Wenn ich hier bin und beobachte, will ich die Zahlen feststellen. Das heißt, ich kann die mir dann einfach nicht durch die Lappen gehen lassen. Ich muss schon konzentriert mit dem Notizbuch (lacht) dabei sein und aufschreiben. Das kann ich dann nicht einfach so emotional vorbei düsen lassen. (lacht) "

Hühnerbein: " Vielleicht sind se fromm; dass sie in der Nähe einer Kirche sein wollen. (lacht) Und dann Kultur der Museumsinsel. Ich denke, dass die Stare wahrscheinlich Kultur mögen.“

Meint Friedrich Wilhelm Hühnerbein. Der Domprediger des Berliner Doms, der mit seinem asketischen Gesicht und der bedachten Art ungefähr so wirkt, wie man sich immer schon einen Mann Gottes vorgestellt hat – Friedrich Wilhelm Hühnerbein sitzt quasi in der ersten Reihe – beim Star-Konzert.

Hühnerbein: " Ich bin immer wieder fasziniert, wenn sie hier erst mal proben – Formationsflüge proben im Grunde genommen. Kann man ja zusehen, dass sie fliegen und dann auf einmal in einer Sekunde andersrum fliegen. Dass sie sich eben nicht gegenseitig behindern. Das interessiert mich schon: Wie das da oben funktioniert.“

Der Star – ein Flugkünstler. In Punkto religiöser Symbolik hilft ihm das aber auch nichts. Da laufen ihm andere Vögel den Rang ab. Meint der Mann vom Fach.

Hühnerbein: " Die Vögel werden an sich immer wieder auch erwähnt – gerade in der Bergpredigt. Dass sich auch Gott im Himmel um die Vögel kümmert; dass sie genügend zu Essen bekommen. Dann die Raben spielen eine Rolle. Sie können dem Menschen etwas zeigen. Zum Beispiel die Taube, die in der Arche Noah eben der Noah heraus schickt, ob man schon auf der Erde wieder siedeln kann. Aber Stare selbst – ich weiß gar nicht, ob es in Palästina Stare gibt.“

Künzel: " Warum machen die Stare das? "

Witt: " Son bisschen geheimnisvoll is es schon. "

Neuer Versuch: Das Sommerkino des Museumsinsel Festivals. Bei gutem Wetter strömen hier allabendlich hunderte Kinogänger in den Vorgarten der Alten Nationalgalerie, um sich „Die Wunderbare Welt der Amelie“ anzuschauen oder was gerade sonst so läuft. Simone Simmer arbeitet seit drei Jahren hier, seit zwei Jahren sitzt die Frau, die mit ihrem schwarzgefärbten Haar und dem Roman auf den Schoß ungefähr so wirkt, wie man sich immer schon eine Kulturfachfrau vorgestellt hat – seit zwei Jahren sitzt sie nun schon im Container, der sich neudeutsch Ticket-Office nennt und in dem es im Sommer schon mal an die 40 Grad warm werden kann. Nicht gerade Traumbedingungen, aber: Zumindest hat auch Simone einen Logenplatz.

Simmer: " Die letzten Wochen war es wirklich immer drei Minuten nach sieben. Die Stare sammeln sich, fliegen dann gemeinsam hoch und fliegen sehr extreme synchrone Muster. Es ist auch ne sehr hohe Geschwindigkeit, wie man sie bei Möwen nicht so oft sieht. Jedes Tier sucht sich seine Nische.“

" Ah, da sind sie. "

" Da sind sie – ja! Sind schon sehr viele auf einmal, ja.“

Künzel: (klickt auf Website) " Das sind also Original-Stare ... "

Und dann ist da noch er: Tilmann Küntzel, der Klangkünstler. Der 46-Jährige, der mit seinen abgedrehten Projekten und der Inbrunst für Stare ungefähr so wirkt, wie man sich immer schon einen Künstler vorgestellt hat – der 46-Jährige hat vor einem Jahr ein Symposium über Stare organisiert, wo wahlweise „philosophisch-poetische Betrachtungen über Flugbewegungen der Stare“ behandelt wurden und „Hörprozesse im Gehirn des Staren“. Tatsächlich ist der Star so etwas wie der Alleskönner unter den Singvögeln, imitiert er nicht nur perfekt andere Vögel, sondern gleich auch noch Lastwagen, Rasierapparate und Handys. Und genau das bereitet Tilmann Künzel Sorgen:

" Also wenn der Star über Generationen in den Städten lebt und seine eigenen Lockrufe, also Stare-eigenes Repertoire Gefahr läuft zu verlernen, weil er nur noch umgeben ist mit künstlichen Geräuschen – dann könnte es tatsächlich zum Problem werden. Deshalb ist mein Beitrag zum Naturschutz der, dass ich ein Klingelton für Handys anbiete, der aus Original-Starlauten besteht. Und ich hab mich bemüht, auch keine Stare-eigene Imitationen damit einzubauen, sondern wirklich Stare-eigene Laute. Und hoffe, dass also darüber Stare wieder zu ihrer alten eigenen Sprache finden. Nen bißchen mit Augenzwinkern natürlich. (lacht) "

Künzel: " Warum machen die Stare das? "

Witt: " Son bisschen geheimnisvoll is es schon. "

Da warten sie wieder: Die Besucher von Nofretete und Goya. Wer sich die apokalyptischen Visionen des spanischen Meister-Malers anschauen will, muss am Wochenende vier Stunden anstehen, bei der 3300 Jahre alten Kalkstein-Büste der ägyptischen Königin geht es etwas schneller: Nur eine Stunde Wartezeit.

Anstehen als Event: Matthias Henkel gefällt das. Vom „Moma-Effekt“ redet der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der staatlichen Museen zu Berlin – so wie vor einem Jahr, als die Ausstellung des Museum of Modern Art Wartezeiten von bis zu acht Stunden mit sich brachte. Und jetzt wieder so ein Erfolg! Da strahlt der Mann, der mit seiner Dynamik und dem großzügigen Gebrauch von Superlativen ungefähr so wirkt, wie man sich immer schon einen Öffentlichkeitsarbeiter vorgestellt hat. Seine Stars sind Goya und Nofretete. Und die anderen? Die Stare?

Henkel: " Was haben wir denn rausgefunden? Beim Durchgang durch die Alte Nationalgalerie fällt einem nicht unbedingt ein Star ins Auge.“

Schade.

Henkel: " Natürlich gibt’s da Vögel, zum Beispiel bei Caspar David Friedrich und der Abtei im Nebel.“

Na, immerhin.

Henkel: " Aber etwas Starenhaftes – dazu muss man wirklich erst ans Kulturforum in das Kupferstichkabinett, denn möglicherweise – ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube in dem Kinderbuch von Adolf Menzel – da sind verschiedene Vögel abgebildet. Und ziemlich sicher hat auch Georg Flegel – das ist ein später Zeitgenosse von Albrecht Dürer – der hat sich auch mit der Abbildung entsprechendem Federviehs beschäftigt. "

Henkel: " Der Star ist vielleicht weniger als Abbild, denn er is ja ein relativ unscheinbarer Vogel, interessant, hat dementsprechend nicht so den ganz großen Zugang in die Kunstgeschichte gefunden, aber er ist eben für den Menschen interessant aufgrund seiner Fähigkeit, sich ihm eben so anzupassen. Und wirklich ein Kulturfolger zu sein. "

Witt: " Wie spät haben wa’s jetzt? Jetzt ist kurz vor acht. Müssen wa eben noch nen Momentchen warten ... "

Kein Problem für Klaus Witt. Geduld gehört zu den Grundtugenden eines echten Ornithologen. Und als solcher hebt er sich natürlich ab vom gemeinen Laien. Der blickt so und so nicht immer durch, was den Star angeht. Findet Witt. Die Vermenschlichung beispielsweise. Was ist dem Star nicht alles schon nachgesagt worden: Eine demokratische Gesinnung, weil beim Formationsflug nicht nur die Altvögel das Kommando inne haben, sondern auch Jungvögel; einen Hang zur Geselligkeit, weil er lieber in Scharen schläft und frißt; und dann soll er noch wechselweise tolerant und erzkonservativ sein, weil er ein friedvoller Geselle ist und keiner Krähe das Auge aushackt, dafür aber immer wieder an den selben Ort zurückkehrt.

Witt: " Den normalen Laien spricht das natürlich an. Weil er denkt, er kann sein eigenes gesellschaftliches Umfeld dann auch in diesem Vogel repräsentiert sehen. Aber das sind völlig unabhängige Systeme voneinander. So dass man sagen kann: Eigentlich ist das nicht beispielhaft.“

Künzel: " Warum machen die Stare das? "

Witt: " Son bisschen geheimnisvoll is es schon. "

Klaus Witt und Friedrich Wilhelm Hühnerbein haben sich noch nie getroffen. Und trotzdem sind die beiden Gegner. Hat mit den Staren zu tun.

Hühnerbein: " Es können nen paar Tausend weniger sein.“

Klagt der Gottesmann.

Hühnerbein: " Wir können ja ab August gegen Abend nicht mehr unter den Bäumen hin zur Museumsinsel gehen, ohne gewärtig zu sein, dass man vielleicht etwas abbekommt von oben.“

Etwas abbekommen?!

Hühnerbein: " Nicht bloß Regen, sondern etwas Handfestes. "

Etwas Handfestes?!

Hühnerbein: " Ist ja keiner begeistert, wenn er auf seiner Kleidung – meinetwegen dann Sonntagskleidung – wenn sie zum Konzert oder zum Gottesdienst kommen, dann auf einmal auf seiner Kleidung dann son Kot hat, der dann ja auch nun ätzend ist – da gibt es schon immer wieder...ja, nicht enttäuschte Gesichter, aber betroffene Gesichter.“

Ein betroffenes Gesicht macht auch Klaus Witt.


Witt: " Die wollten den Star hier los werden. Die wollten den eigentlich vertreiben. "

Frechheit!

Witt: " Wegen der Kot-Kontamination. Eigentlich nur, weil die Stare koten.“

Wenn es mehr nicht ist.

Witt:“ Nun ist aber das Staren-Wäldchen eigentlich nur nen Durchlaufgebiet. Da setzt sich keiner hin, auch die parkenden Autos, die jetzt am Rand des Kastanienhains stehen, sind eigentlich schon relativ weit abgesetzt vom eigentlichen Staren-Schlafplatz.“

Das sah das Bezirksamt Mitte genauso – und gab den Ornithologen um Klaus Witt recht. Die Stare dürfen bleiben. Ein glatter Punktsieg.

Friedrich Wilhelm Hühnerbein trägt es mit Fassung. Der Domprediger ist Leid gewöhnt. Mag er auch noch so eloquent predigen – die meisten besuchen Berlins größtes Gotteshaus nicht zum Beten, sondern zum Sightseeing. Touristen wie Berliner. Von letzteren ist nur noch jedes dritte Mitglied in einer christlichen Kirche. Richtig voll wird der Dom nur einmal im Jahr: Zur Langen Nacht der Museen am 27. August.

Hühnerbein: " Dass sie nun gerade in der langen Nacht der Museen, wo man ja durch alle Museen gehen kann, nun gerade dann im Dom landen und ja, doch erheblich viel Zeit auch verbringen, auch sich hinsetzen – das ist eben doch verwunderlich. Und das sind ja immer zwischen 12 und 18.000 in einer Nacht. Da kann man den Dom vor lauter Gewühle nun wirklich nicht besonders schön sehen.“

Künzel: " Warum machen die Stare das? "

Witt: " Son bisschen geheimnisvoll is es schon. "

Ein letzter Versuch. Die Anlegestelle für Ausflugsdampfer direkt gegenüber des Kastanienhains.

Junior-Chef: " Ick glob, da bin ich der falsche Ansprechpartner. "

Meint der kleine Eddy von der Eddy Line, der mit seinen blondierten Haaren und der Zigarette in der Hand ungefähr so wirkt, wie man sich immer schon einen Jung-Skipper vorgestellt hat.

Junior-Chef: " Mein Chef – der müßte das wissen. "

OK.

Eddy: " Schönen juten Tach! "

Meint der große Eddy von der Eddy Line, der mit seinem Rausche-Bart und dem Kugelbauch ungefähr so wirkt, wie man sich immer schon einen Alt-Skipper vorgestellt hat.

Eddy: " Meinen Sie jetzt die Vögel oder die Kunstwerke? "

Die Vögel.

Eddy: " Ick dachte, sie meinten jetzt von den anderen hier: Nofretete und so watt. "

Nein, nein. Die Vögel.

Eddy: " Die sitzen meistens inne Bäumen, wenn man abends das Gezwitschere hört, drückt man noch mal auf die Tube hier, ja auf die Tube hier, damit se hoch fliegen. Und mehr ist da nicht. Finde ich gar nicht so schlecht. Zieht nen bißchen die Besucher an. Für alle eigentlich erträglich, nä?! "

Künzel: " Warum machen die Stare das? "

Fragen wir uns jetzt schon die ganze Zeit.

Witt: " Son bisschen geheimnisvoll is es schon. "

Warum Museumsinsel? Weil der Star ein Kulturfolger ist?! Und an der Museumsinsel – dieser Stätte deutscher Hochkultur – einen Narren gefressen hat? „Schön wär’s“ – meint Klaus Witt:

" Für die Stare ist das natürlich völlig nebensächlich. Die kümmern sich nur um den Kastanienhain hier am Dom. (lacht) Die Kultur hier – das kümmert sie nur ein Dreck. (lacht) Das überfliegen sie (lacht) und gucken noch nicht einmal schäbig runter.“

Sagt der Naturwissenschaftler.

Der Religionswissenschaftler ist angesichts solch profaner Erklärungsmuster nur eines: „Betroffen.“ Für Friedrich Wilhelm Hühnerbein sind und bleiben die Stare eine Inspirationsquelle – allen Kot-Attacken zum Trotz:

" Man kriegt dann ja doch nen bisschen Sehnsucht nach Weite. Am liebsten würde man sich auch aufmachen (im Hintergrund schlägt Uhr halbe Stunde) und mal schnell in ein anderes Land fliegen.“

Tilman Künzel hat auch einen Traum. In ein, zwei Jahren – hofft der Klangkünstler – werden einige Berliner Stare, die an ihren Brutplätzen mit seinen Klang-Fragmenten beschallt worden sind, die dann in ihr Repertoire aufgenommen haben.

Künzel: " Bis man langfristig meine Kompositionen in dem Staregesang heraushören kann. Zum Beispiel am Dom (...), wenn man am Dom steht und 40.000 Stare in den Bäumen sind, dass man hier und da ungewöhnliche Tunes raushört, wo man sagt: „Ah! Das ist doch von Tilmann Künzel. "

Na, da soll er mal hoffen.

Matthias Henkel ist schon wieder auf dem Sprung: Ein weiteres Interview, schnell noch bei Nofretete vorbeischauen – alles schnell, schnell. Oder doch noch etwas Erwähnenswertes?

Henkel: " Nä, ich bin jetzt auch starlos. (lacht) "