Der Staat im Griff der Parteien
Das Grundgesetz hat die Parteien damit beauftragt, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Mitzuwirken, wie gesagt, mehr nicht. Aus dieser Einladung haben die Parteien ein Monopol gemacht und dergestalt die Verfassung nicht nur verändert, sondern geradezu entstellt. Die nämlich hat als eine der sichersten Vorkehrungen gegen die Verlockungen der Macht die Gewaltenteilung vorgesehen. Und eben die wird von dem Allmachtstreben der Parteien unauffällig außer Kraft gesetzt.
In seinem Roman über die schöne, neue Welt von morgen hat Aldous Huxley die Entwicklung recht genau vorausgesehen, als er schrieb: "Die wunderlichen, altmodischen Gebräuche - Wahlen, Parlamente, Verfassungsgerichtshöfe und alles übrige - werden bleiben, aber die zugrunde liegende Substanz wird eine neue Art von gewaltlosem Totalitarismus sein". Still, aber überaus wirkungsvoll haben die Parteien das Verfassungsgefüge unterlaufen; sie sind, wie man gesagt hat, immer schon zur Stelle, wenn die Gewaltenteilung greifen soll; sie knüpfen Beziehungen, spinnen Netze, schaffen Abhängigkeiten und führen zusammen, was nach dem Willen des Grundgesetzes getrennt bleiben sollte.
Der Grundgedanke der Demokratie: dass legitime Herrschaft an die Zustimmung der Machtunterworfenen gebunden ist - dieser Gedanke läuft leer, wenn die Verbindung zwischen Wählern und Gewählten erstarrt, porös wird oder abreißt. Wo die Mandats- und Amtsinhaber ihrer Partei mehr zu verdanken haben als ihren Wählern, ist das jedoch auf Dauer unvermeidlich. Über die Chance, als Volksvertreter in ein Parlament einzuziehen, entscheiden die Wähler nur in zweiter Linie; an erster Stelle tut das die Partei. Sie bestimmt, wer einen guten Listenplatz erhält und einen sicheren Wahlkreis zugewiesen bekommt. Die Stellenjäger reagieren darauf nur, wenn sie sich der Parteiführung stärker verbunden fühlen als ihren Wählern. Die meisten von ihnen repräsentieren denn auch zunächst einmal sich selbst und dann noch die Partei. Alles andere kommt später.
Der Engländer Edmund Burke, ein Herold des Parlamentarismus, hat es als erste Pflicht der Abgeordneten bezeichnet, sich mit den Umständen vertraut zu machen, unter denen die von ihnen vertretenen Bürger leben. Ist das jedoch noch möglich, wenn sie der Partei mehr schuldig zu sein glauben als ihren Wählern? Vermutlich nicht; und eben darin liegt das Ärgernis. Wohin man blickt, entdeckt man Spuren einer politischen Sonderwelt, die von den Bedingungen, unter denen die Menschen "draußen im Lande" ihr Leben fristen, ziemlich weit entfernt sind.
Was kann ein Abgeordneter vom Druck der Einkommensteuer wissen, wenn er ein Drittel seiner Einkünfte steuerfrei bezieht? Was von den Missständen der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn er sich selbst privat versichern darf? Was kümmert ihn das Missverhältnis zwischen fallenden Renten und steigenden Beiträgen, wenn er ein beitragsfreies Altersruhegeld genießt? Wie soll er ahnen, was der Absturz nach Hartz IV bedeutet, wenn er selbst Anspruch hat auf eine großzügig bemessene Übergangsregelung? So könnte man immer weiter fragen. Und die Antwort klänge immerzu gleich: Die Volksvertreter haben sich in einem Refugium eingesponnen, in dem sie von den Lasten, die sie den Bürgern zumuten, wenig merken.
Sie reden von Teilhabe und fordern uns, die Bürger, dazu auf, sich in die Politik einzumischen, zerstören aber, soweit es denn an ihnen liegt, die erste und wichtigste Voraussetzung dafür. Teilhabe kann es ja nur dort geben, wo öffentliche Ämter so ausgeübt werden, dass sich der Bürger, und zwar jeder Bürger, über die erfolgreiche oder misslungene Amtsführung ein schnelles und sicheres Urteil bilden kann. Durchblick also, Klarheit und Verständlichkeit: Aber wo wäre die noch möglich? Den Risikostrukturausgleich, das hochkomplexe Herzstück der jüngsten Gesundheitsreform, hat Horst Seehofer, allenfalls halb-ironisch, als eine Konstruktion bezeichnet, die von höchstens drei Leuten im ganzen Land verstanden würde. Der Rest ist Glaubenssache: wer nichts versteht, muss alles glauben.
Die politische Klasse hat sich selbstständig gemacht. Da die Verteilung von Macht und Geld zwar vom Wahlergebnis, aber nicht von der Wahlbeteiligung abhängt, kommen die Parteien auch dann gut über die Runden, wenn der Zuspruch gering ausfällt. Die Werte können so weit fallen wie sie wollen, am Ende sogar gegen Null konvergieren - so lange der Umfang der Beute insgesamt gleich bleibt, es also genügend Ämter zu besetzen, Pfründen zu verteilen und Mandate auszulosen gibt, kann den Parteien die Entwicklung gleich sein. Sie überleben so oder so, weil sie mit Geld und Gut vom Staat versorgt werden, nicht vom Wähler. An Versuchen, ihren Geldhunger zu zügeln, hat es beileibe nicht gefehlt; nur sind sie allesamt misslungen, nachdem es die Parteien verstanden hatten, sich selbst als Staatsorgane zu etablieren.
Bei aller Rivalität und allem demonstrativen Kampfgetümmel verbindet die Parteien untereinander ebenso viel, wie sie von ihren Wählern trennt. Die Leute, berichtete Horst Seehofer, nachdem er von einem Besuch in seinem Wahlkreis zurück am Sitz des Bundestages war, die Leute sagen mir: Ihr macht in der Politik, was ihr wollt. Wir machen auch, was wir wollen. Wenn das die Stimmung ist, gehen die schönen Parolen, die von Teilhabe, Demokratisierung und Partizipation schwärmen, ins Leere. Teilhabe wird zwar gepredigt, aber nicht gewollt, weil sich Geschäfte nur mit denen machen lassen, die den Betrieb gut kennen. Und das sind eben die Parteien.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", arbeitete dann für die "WELT" und für die FAZ. Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern", "Die Republik dankt ab" sowie "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen". Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".
Der Grundgedanke der Demokratie: dass legitime Herrschaft an die Zustimmung der Machtunterworfenen gebunden ist - dieser Gedanke läuft leer, wenn die Verbindung zwischen Wählern und Gewählten erstarrt, porös wird oder abreißt. Wo die Mandats- und Amtsinhaber ihrer Partei mehr zu verdanken haben als ihren Wählern, ist das jedoch auf Dauer unvermeidlich. Über die Chance, als Volksvertreter in ein Parlament einzuziehen, entscheiden die Wähler nur in zweiter Linie; an erster Stelle tut das die Partei. Sie bestimmt, wer einen guten Listenplatz erhält und einen sicheren Wahlkreis zugewiesen bekommt. Die Stellenjäger reagieren darauf nur, wenn sie sich der Parteiführung stärker verbunden fühlen als ihren Wählern. Die meisten von ihnen repräsentieren denn auch zunächst einmal sich selbst und dann noch die Partei. Alles andere kommt später.
Der Engländer Edmund Burke, ein Herold des Parlamentarismus, hat es als erste Pflicht der Abgeordneten bezeichnet, sich mit den Umständen vertraut zu machen, unter denen die von ihnen vertretenen Bürger leben. Ist das jedoch noch möglich, wenn sie der Partei mehr schuldig zu sein glauben als ihren Wählern? Vermutlich nicht; und eben darin liegt das Ärgernis. Wohin man blickt, entdeckt man Spuren einer politischen Sonderwelt, die von den Bedingungen, unter denen die Menschen "draußen im Lande" ihr Leben fristen, ziemlich weit entfernt sind.
Was kann ein Abgeordneter vom Druck der Einkommensteuer wissen, wenn er ein Drittel seiner Einkünfte steuerfrei bezieht? Was von den Missständen der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn er sich selbst privat versichern darf? Was kümmert ihn das Missverhältnis zwischen fallenden Renten und steigenden Beiträgen, wenn er ein beitragsfreies Altersruhegeld genießt? Wie soll er ahnen, was der Absturz nach Hartz IV bedeutet, wenn er selbst Anspruch hat auf eine großzügig bemessene Übergangsregelung? So könnte man immer weiter fragen. Und die Antwort klänge immerzu gleich: Die Volksvertreter haben sich in einem Refugium eingesponnen, in dem sie von den Lasten, die sie den Bürgern zumuten, wenig merken.
Sie reden von Teilhabe und fordern uns, die Bürger, dazu auf, sich in die Politik einzumischen, zerstören aber, soweit es denn an ihnen liegt, die erste und wichtigste Voraussetzung dafür. Teilhabe kann es ja nur dort geben, wo öffentliche Ämter so ausgeübt werden, dass sich der Bürger, und zwar jeder Bürger, über die erfolgreiche oder misslungene Amtsführung ein schnelles und sicheres Urteil bilden kann. Durchblick also, Klarheit und Verständlichkeit: Aber wo wäre die noch möglich? Den Risikostrukturausgleich, das hochkomplexe Herzstück der jüngsten Gesundheitsreform, hat Horst Seehofer, allenfalls halb-ironisch, als eine Konstruktion bezeichnet, die von höchstens drei Leuten im ganzen Land verstanden würde. Der Rest ist Glaubenssache: wer nichts versteht, muss alles glauben.
Die politische Klasse hat sich selbstständig gemacht. Da die Verteilung von Macht und Geld zwar vom Wahlergebnis, aber nicht von der Wahlbeteiligung abhängt, kommen die Parteien auch dann gut über die Runden, wenn der Zuspruch gering ausfällt. Die Werte können so weit fallen wie sie wollen, am Ende sogar gegen Null konvergieren - so lange der Umfang der Beute insgesamt gleich bleibt, es also genügend Ämter zu besetzen, Pfründen zu verteilen und Mandate auszulosen gibt, kann den Parteien die Entwicklung gleich sein. Sie überleben so oder so, weil sie mit Geld und Gut vom Staat versorgt werden, nicht vom Wähler. An Versuchen, ihren Geldhunger zu zügeln, hat es beileibe nicht gefehlt; nur sind sie allesamt misslungen, nachdem es die Parteien verstanden hatten, sich selbst als Staatsorgane zu etablieren.
Bei aller Rivalität und allem demonstrativen Kampfgetümmel verbindet die Parteien untereinander ebenso viel, wie sie von ihren Wählern trennt. Die Leute, berichtete Horst Seehofer, nachdem er von einem Besuch in seinem Wahlkreis zurück am Sitz des Bundestages war, die Leute sagen mir: Ihr macht in der Politik, was ihr wollt. Wir machen auch, was wir wollen. Wenn das die Stimmung ist, gehen die schönen Parolen, die von Teilhabe, Demokratisierung und Partizipation schwärmen, ins Leere. Teilhabe wird zwar gepredigt, aber nicht gewollt, weil sich Geschäfte nur mit denen machen lassen, die den Betrieb gut kennen. Und das sind eben die Parteien.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", arbeitete dann für die "WELT" und für die FAZ. Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern", "Die Republik dankt ab" sowie "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen". Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".