"Der Spiegel bleibt der Spiegel"

Moderation: Liane von Billerbeck |
Mehr als die Hälfte der Lebenszeit des "Spiegel" war Jürgen Leinemann als Reporter und Autor dabei. Er habe vor allem die "Innerblattdemokratie" geschätzt, die selbstkritische Auseinandersetzungen ermöglichte. Als Markenzeichen der Respektlosigkeit sei man immer gegen die Etablierten gewesen.
Von Billerbeck: Kritik und Selbstkritik sind ja nötig, wenn man ein so journalistisches Schwergewicht sein will wie der "Spiegel". Kritik hat das Blatt gern und oft und fundiert geübt. In den vergangenen Jahren kamen des Öfteren Stimmen an die Öffentlichkeit wie die der Augstein-Tochter Franziska, die von der Geschwätzigkeit des Blattes sprach und davon sagte, dass es beliebig geworden sei wie andere Blätter. Wie selbstkritisch ist denn der "Spiegel"?

Leinemann: Also ich habe den "Spiegel" in 35 Jahren erlebt bis zum Jahresende, und ich habe immer intern jedenfalls einen sehr selbstkritischen Dialog miterlebt, eine sehr reflektive Haltung, die zumeist jedenfalls nicht nach außen gedrungen ist. Das hieß aber nicht, dass also alles, was passiert ist, nur dadurch, dass es passiert war, schon als geheiligt galt, sondern da konnte man schon sehr massiv kritisieren. Einer der Gründe, warum ich so lange dabei gewesen bin, ist tatsächlich diese Innerblattdemokratie, die es gegeben hat und die nicht nur eine Fiktion war.

Von Billerbeck: Nun gab es aber gerade in den letzten Jahren einige Fälle, die schon, wenn man als kritischer Journalist den "Spiegel" auch beobachtet, einen haben zweifeln lassen an dieser Innerblattdemokratie, von der Sie gerade sprachen. Ich erinnere da an den Fall des Umweltredakteurs Harald Schumann, der ja das Buch "Die Globalisierungsfalle" geschrieben hat und der nach einer Geschichte gegen die Windkraft unter dem Titel "Die große Luftnummer" gekündigt hatte. Unter anderem stand in diesem Text damals drin, dass die Verspargelung der Landschaft einer der schlimmsten Verheerungen seit dem Dreißigjährigen Krieg sei. Dieser gedruckte Text, so der Autor, sei quasi in das Gegenteil verkehrt worden. Wie wurden solche Eingriffe damals in der Redaktion diskutiert?

Leinemann: Es wurde heftig diskutiert. Die Einzelheiten über diese Auseinandersetzung kenne ich nicht, aber ich weiß, dass Harald Schumann sehr für seinen Text gekämpft hat. Wenn ich diesen Auszug jetzt gerade höre, dann denke ich, das ist schon eine ziemlich vergröbernde Darstellung, nämlich seit dem Dreißigjährigen Krieg sind schon schlimmere Sachen in Deutschland passiert als diese, wie ich auch finde, nicht besonders schönen Windräder. Das sind ja auch nur symbolische Spitzen sozusagen. Worum es dann geht, ist offenbar die ganze Richtung, und da gab es Auseinandersetzungen, und Auseinandersetzungen grundsätzlicher Art hat es immer gegeben, und Diskussionen hat es immer gegeben, und es hat auch immer Redakteure gegeben, die aus einem oder dem anderen Grunde gesagt haben, der "Spiegel" ist nicht mein Blatt und da gehöre ich nicht hin. Genauso hat es seine Gründe, warum ich nicht bei Springer, sondern beim "Spiegel" bin.

Von Billerbeck: Sie haben ja auch über Jahrzehnte die Wahlkämpfe begleitet, auch die Bundestagswahlkämpfe. Wie haben Sie denn den vorigen Bundestagswahlkampf 2005 also erlebt, welche Rolle hat da Ihr Blatt gespielt?

Leinemann: Ach, der "Spiegel" hat genau die Rolle gespielt eigentlich in diesem Wahlkampf, wie ich es so lange kenne, wie ich dabei war, nämlich immer gegen die Etablierten. Wir waren diejenigen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, die für die Ostpolitik und für Willy Brandt waren, und dann die Ersten waren, die mit diesem Titel kamen, dass das Denkmal Risse hat und Willy Brandt attackiert haben. Helmut Schmidt hat den "Spiegel" für Wegelagerer gehalten. Helmut Kohl hat 16 Jahre nicht mit uns geredet. Gerhard Schröder hat uns beschimpft.

Von Billerbeck: Und gefürchtet, sagte er mal irgendwann.

Leinemann: Ja, das hat er gesagt, aber der hat in Wahrheit allenfalls gefürchtet, dass er in den Medien nicht mehr vorkommt. Das war unangenehm. Der "Spiegel" hat eine Verfielfältigungskraft auch. Der "Spiegel" war deswegen so bedeutsam, das ist mein Eindruck, dass er auch von allen Kollegen zuerst gelesen wird. Da hat sich einiges verändert in den letzten Jahrzehnten, denke ich mal. Die Medien, die Tageszeitungen haben viel vom "Spiegel" übernommen.

Von Billerbeck: Was zum Beispiel?

Leinemann: Also das, was wir so diesen Aufklärungsjournalismus nennen, diese Art von Untersuchung haben die Tageszeitungen übernommen, aber nicht nur das. Ich denke, zum Beispiel alle Seiten 3, diese Reportageseiten in den Zeitungen, haben mehr oder weniger den Charakter einer früheren normalen "Spiegel"-Geschichte: an Personen erzählte Ereignisse, die sehr lebendig erzählt werden und auf Pointen hin geschrieben sind. Das war der Charakter der "Spiegel"-Geschichte, und das ist jetzt sozusagen journalistisches Allgemeingut geworden. Wissen Sie, wenn Sie ein Blatt haben, dessen Markenzeichen die Respektlosigkeit ist, dann ist das in einer Untertanengesellschaft etwas, was außerordentlich ungewöhnlich ist und große Aufmerksamkeit nach sich bringt, obwohl wirklich ja auch zum Teil mit großen Gefährdungen, wie wir während der "Spiegel"-Affäre in den sechziger Jahren erlebt haben, verbunden ist.

Von Billerbeck: Sie haben gerade von der Respektlosigkeit gesprochen und auch vor allen Dingen von der Respektlosigkeit gegenüber den Mächtigen und Herrschenden. Aber wenn wir nochmal auf den Bundestagswahlkampf 2005 zurückkommen, da hat man zwar Respektlosigkeit gegen Gerhard Schröder, der ja der Machthabende war, erwiesen, aber heißt das nicht im Umkehrschluss auch, dass man sich bei der künftigen Kanzlerin angebiedert hat, wie das möglicherweise ja viele Medien getan haben im Wahlkampf?

Leinemann: Das kann man so sehen, das tun einige, ich habe das so nicht gesehen, und Sie sehen ja auch jetzt, es ist ja nun nicht so, dass der "Spiegel" nun immer vor Angela Merkel kniet.

Von Billerbeck: Nein, jetzt natürlich nicht mehr, jetzt ist sie ja an der Macht.

Leinemann: Ja, wenn mich eines immer irritiert hat und ich auch nicht so glücklich gefunden habe, war es, dass die politische Berichterstattung aus den Hauptstadtbüros, das war schon in Bonn so, das war von Anfang an so, als ich da hinkam Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, dass sehr häufig die Kritik an den Regierenden sozusagen aus der Augenhöhe der Opposition geführt wurde und dass nicht etwa der "Spiegel" glaubte, sich selber eine eigene Position anmaßen zu dürfen, und dann entstand sehr schnell der Eindruck, dass man, weil man gegen den einen war, sei man für den anderen.

Von Billerbeck: Jetzt gibt es ja eine Menge Elogen. Zum 60. Geburtstag des "Spiegel" kann man sehr viel über das Blatt lesen. Interessanterweise habe ich gestern eine Meldung gelesen von der katholischen Nachrichtenagentur KNA, die höchst erfreut darüber berichtet, welch entspanntes Verhältnis der "Spiegel" mittlerweile zur katholischen Kirche und zum Papst habe. Müssten da in der "Spiegel"-Redaktion nicht die Alarmglocken klingeln, wenn man eben nicht mehr auf dem unbequemen Platz zwischen den Stühlen sitzt, sondern, was die katholische Kirche angeht, im bequemen Sessel?

Leinemann: Also ich glaube das so auch nicht. Das ist ja schön, dass sie das jetzt so wahrnehmen, und so ein bisschen von dieser Haltung, dass wir alle Papst geworden sind, also diese "Bild"-Zeitung-Schlagzeile, ein bisschen von der Haltung mag da reingeschwappt sein, weiß ich nicht. Aber ich glaube, da braucht niemand Sorge zu haben, dass der "Spiegel" ein Ableger des Vatikans werden könnte oder von PR-Beratern der katholischen Kirche jetzt gelenkt würde. Der "Spiegel" bleibt der "Spiegel"!
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